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Verbandsklagen auf Abhilfe sind seit 13. Oktober 2023 möglich

Die Abhilfeklage erlaubt es Verbraucherverbänden, Leistungsansprüche von Verbrauchern gegen Unternehmen gesammelt einzuklagen. Das Gesetz ist am 13. Oktober 2023 in Kraft getreten.

Was bedeutet die Abhilfeklage für die Unternehmen, die sich mit solchen Klagen konfrontiert sehen könnten? Zahlreiche Detailfragen für die Praxis sind noch ungeklärt.

Das Verbraucherrechtedurchsetzungsgesetz – VDuG schafft eine neue Klageart: die Abhilfeklage. Damit können Verbraucherverbände stellvertretend für viele Betroffene Ansprüche auf Leistung gegen Unternehmen geltend machen. Das Gesetz setzt die EU-Verbandsklagerichtlinie um und passt zugleich andere Gesetze an, die Verbraucherschutz betreffen. Am 29. September 2023 hat der Bundesrat das Gesetz gebilligt. Es tritt voraussichtlich im Oktober 2023, einen Tag nach der Verkündung im BGBl, in Kraft.

Der Rechtsausschuss des Bundestags hat den Regierungsentwurf (siehe dazu unseren Client Alert "Die Abhilfeklage kommt nach Deutschland") an einigen Punkten geändert, um einen besseren Ausgleich zwischen den Interessen von Verbrauchern und Unternehmen zu finden. Zum Beispiel sind nur noch sehr kleine Unternehmen neben Verbrauchern berechtigt, sich dem Verfahren anzuschließen. Prozessfinanzierer dürfen nur noch bis zu 10 % der erstrittenen Leistung erhalten. Die Hürden für die Betroffenheit von Verbrauchern und die Gleichartigkeit von Ansprüchen sind gesenkt worden. Bei Streitigkeiten über die Umsetzung der Abhilfeentscheidung durch den Sachwalter kann ein Gericht angerufen werden.

Das neue Verfahren ermöglicht eine direkte Durchsetzung von Verbraucheransprüchen

Bisher bietet nur das Sammelklagen-Inkasso per Abtretungsmodell eine direkte Anspruchsdurchsetzung. Die Anspruchsinhaber haben dort kein Kostenrisiko, müssen aber im Erfolgsfall meist eine hohe Provision zahlen. Dieses Modell wird neben der Abhilfeklage weiterhin bestehen. Vor allem für kleine und mittelständische Unternehmen, die nicht von der Abhilfeklage profitieren können, ist dies eine Alternative zur Individualklage.

Die Abhilfeklage ergänzt die bestehenden Möglichkeiten für Verfahren gegen Unternehmen bei Massenschäden:

  • Mit der Musterfeststellungsklage (mit einigen Besonderheiten auch in Form der Kapitalanleger-Musterfeststellungsklage) können gemeinsame Vorfragen für viele individuelle Verfahren geklärt werden. Die Ansprüche müssen aber danach noch in Individualverfahren durchgesetzt werden. Das kann langwierig und teuer sein.
  • Bei vielen gleichartigen Klagen kann ein Gericht mit Zustimmung der Parteien ein Pilotverfahren auswählen und dort über grundsätzliche Fragen entscheiden, die für alle Verfahren wichtig sind. Auch hier müssen die anderen Verfahren noch einzeln abgeschlossen werden. Die Bundesregierung plant, dass der Bundesgerichtshof in solchen Fällen eine Leitentscheidung treffen kann, die für alle Verfahren Orientierung bietet. Das soll verhindern, dass die Parteien durch Vergleiche oder Revisionen eine höchstrichterliche Klärung vermeiden.
  • Verbände können gegen Unternehmen auch auf Unterlassung nach dem Unterlassungsklagengesetz (UKlaG) oder nach dem Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb (UWG) klagen. Das UWG erlaubt auch die Beseitigung oder Gewinnabschöpfung zugunsten des Bundeshaushalts. Das neue Gesetz stärkt die Unterlassungsklagen: sie hemmen nun die Verjährung von Verbraucheransprüchen; Klagen nach UklaG können mehr Rechtsgebiete als bisher (vor allem EU-Recht) umfassen; Gewinnabschöpfung nach UWG ist schon bei grober Fahrlässigkeit möglich. Verbraucher können aber ihre Ansprüche damit nicht direkt durchsetzen.

Im Gegensatz zu diesen Möglichkeiten bietet die Abhilfeklage eine direkte Durchsetzung von Verbraucheransprüchen gegenüber dem Unternehmen.

Verbände können Unternehmer verklagen, um Ansprüche vieler Verbraucher durchzusetzen

Die Abhilfeklage ermöglicht es qualifizierten Verbraucherverbänden oder Einrichtungen aus anderen EU-Ländern, stellvertretend für eine Vielzahl von Verbrauchern gegen einen Unternehmer zu klagen, wenn dieser ihre Ansprüche zu Unrecht zurückweist oder Rechtsverhältnisse verletzt. Dabei zählen auch kleine Unternehmen mit bis zu 10 Beschäftigten und einem Jahresumsatz oder einer Jahresbilanz von höchstens 2 Millionen Euro als Verbraucher.

Die Verbraucher selbst können keine Abhilfeklage erheben, sondern müssen sich von einem Verband oder einer Einrichtung vertreten lassen, die bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Die Verbände müssen in einer Liste geführt werden, die bisher für Unterlassungsklagen galt. Um in diese Liste aufgenommen zu werden, müssen sie seit mindestens einem Jahr nicht gewerbsmäßig die Interessen der Verbraucher durch Aufklärung und Beratung wahrnehmen und dafür ausreichend ausgestattet sein. Außerdem dürfen sie weder Mitglieder noch Mitarbeiter begünstigen noch mehr als 5% ihrer Gelder von Unternehmen erhalten. Die ausländischen Einrichtungen müssen in einem Verzeichnis stehen, das die EU-Kommission führt.

Mehrere Verbände oder Einrichtungen aus dem In- oder Ausland können gemeinsam gegen einen oder mehrere Unternehmer klagen, wenn die betroffenen Verbraucher aus dem In- oder Ausland stammen. Allerdings müssen sie sich vorher absprechen: Eine spätere Klage wegen desselben Sachverhalts und mit denselben Zielen gegen denselben Unternehmer ist ausgeschlossen; auch eine Verbindung von Klagen ist dann nicht mehr möglich.

Die Finanzierung von Abhilfeklagen durch Dritte ist nur unter sehr engen Bedingungen erlaubt, die der Rechtsausschuss des Bundestages noch verschärft hat. Ein Dritter darf nur finanzieren, wenn er weder Wettbewerber noch abhängig vom verklagten Unternehmer ist und höchstens 10% der erstrittenen Leistung des Unternehmers erhält. Zudem muss der Verband die Finanzierungsvereinbarungen im Verfahren offenlegen.

Mindestens 50 Verbraucher müssen "im Wesentlichen gleichartige" Forderungen gegen ein Unternehmen haben

Verbraucherverbände können mit einer Abhilfeklage Unternehmer zur Erfüllung von Ansprüchen in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten verpflichten. Das gilt für alle Bereiche außer dem Arbeitsrecht. Damit geht das Gesetz über die EU-Richtlinie hinaus, die nur bestimmte EU-Vorschriften zum Verbraucherschutz nennt. Die Abhilfeklage kann auf verschiedene Leistungen zielen, z.B. Zahlung, Nachbesserung oder Ersatzlieferung.

Die Verbraucherverbände müssen glaubhaft machen, dass die Abhilfeklage mindestens 50 Verbraucher betreffen kann. Das ist eine geringere Hürde als im ursprünglichen Gesetzentwurf, der einen Nachweis verlangte, dass tatsächlich 50 Verbraucher betroffen sind.

Die Ansprüche der Verbraucher müssen im Wesentlichen gleichartig sein. Das heißt, sie müssen auf demselben oder einem vergleichbaren Sachverhalt beruhen und es müssen die gleichen Tatsachen und Rechtsfragen entscheidend sein. Das Gesetz ist hier flexibler als im ursprünglichen Entwurf, der noch eine "schablonenhafte" Prüfung der Ansprüche vorsah. Der Rechtsausschuss hat aber nicht klargestellt, was "im Wesentlichen" bedeutet. Er meint, die Formulierung sei "hinreichend offen, um zu im Einzelfall sachgerechten Ergebnissen zu gelangen".

Es ist unklar, wie die Gerichte mit Ansprüchen umgehen sollen, die sich in einzelnen Punkten unterscheiden, z.B. wenn ein Produkt verschiedene Mängel hat oder eine Vertragsklausel mehrmals geändert wurde. Sind diese Ansprüche noch ähnlich genug, oder braucht es mehrere Abhilfeklagen, von denen jeweils 50 Verbraucher betroffen sein müssen? Angesichts der Änderung im Rechtsausschuss ist bisher ungeklärt, ob die im Regierungsentwurf genannten Beispiele noch zur Abgrenzung taugen. Ansprüche sollen danach z.B. dann nicht gleichartig sein, wenn im Einzelfall geklärt werden muss, ob ein Produkt mangelhaft ist, oder ob ein Verbraucher bei Vertragsschluss einen Umstand kannte.

Verbraucher müssen aktiv werden, damit das Verfahren für und gegen sie Wirkung entfaltet

Verbraucher können sich an einer Abhilfeklage beteiligen, indem sie ihre Ansprüche im Verbandsklageregister anmelden. Das Verbandsklageregister enthielt zuvor nur Musterfeststellungsklagen. Zukünftig werden dort auch Unterlassungsklagen und alle Details zum Abhilfeverfahren veröffentlicht, zum Beispiel:

  • Wer klagt und wer verklagt wird,
  • Welches Gericht zuständig ist,
  • Was der Verband vom Unternehmer verlangt,
  • Welche Ansprüche betroffen sind,
  • Welcher Sachverhalt zugrunde liegt,
  • Wie und bis wann sich Verbraucher anmelden können,
  • Welche Entscheidungen das Gericht trifft oder plant (auch Termine und Hinweise),
  • Ob und wie ein Vergleich zustande kommt und wie Verbraucher austreten können,
  • Wie das Urteil lautet und ob es angefochten wird,
  • Wer als Sachwalter die Interessen der Verbraucher vertritt und wie er bestellt oder entlassen wird und
  • Wie das Umsetzungsverfahren abläuft.

Eine Anmeldung ist möglich, sobald die Klage dem Unternehmer zugestellt wurde, und bis drei Wochen nach der mündlichen Verhandlung. Diese Frist wurde verlängert, damit Verbraucher genug Informationen haben, um eine Entscheidung zu treffen. Das Gericht darf erst sechs Wochen nach der mündlichen Verhandlung ein Urteil fällen.

Bei der Anmeldung müssen Verbraucher einige Angaben zu ihrer Person, dem Gericht, dem Unternehmer und dem Anspruch machen und bestätigen, dass diese richtig und vollständig sind. Die inhaltliche Prüfung erfolgt erst später im Umsetzungsverfahren. Verbraucher können ihre Anmeldung innerhalb von zwei Monaten zurückziehen. Die Anmeldung hemmt die Verjährung des Anspruchs. Nach der Anmeldung können Verbraucher nicht mehr selbst gegen den Unternehmer zum gleichen Thema klagen. Wenn sie das schon getan haben, wird ihr individuelles Verfahren ausgesetzt.

Die Daten der angemeldeten Verbraucher sind nicht öffentlich. Nur das Gericht, der Sachwalter und die Parteien des Abhilfeverfahrens können sie einsehen. Die Verbände müssen außerdem auf ihrer Internetseite über ihre geplanten und laufenden Verbandsklagen und die Folgen für Verbraucher informieren.

Der Ablauf vor Gericht ist dreistufig

Der Ablauf vor Gericht ist dreistufig: Abhilfegrundurteil, Vergleichsverhandlungen, Abhilfeendurteil

Das Oberlandesgericht am Sitz des beklagten Unternehmers ist für die Klage zuständig. Die Regeln für Zivilverfahren erster Instanz vor den Landgerichten gelten entsprechend.

1) Bis zum Abhilfegrundurteil

Das Gericht prüft zunächst, ob die Klage zulässig und begründet ist. Ist sie es nicht, wird sie abgewiesen. Ist sie es, hängt das Urteil davon ab, ob der Verband die betroffenen Verbraucher namentlich benannt hat oder nicht. Im ersten Fall spricht das Gericht ein Zahlungsurteil aus. Im zweiten Fall erlässt es ein Abhilfegrundurteil.

Darin legt das Gericht fest, welche Voraussetzungen die Verbraucher erfüllen müssen, um Ansprüche geltend zu machen, und wie sie dies im weiteren Verfahren nachweisen müssen. Außerdem bestimmt das Gericht den Betrag oder die Berechnungsmethode für jeden Verbraucher. Das Abhilfegrundurteil kann mit Revision zum BGH angefochten werden.

2) Vergleichsverhandlungen

In der zweiten Stufe sollen der Verband und das Unternehmen versuchen, einen Vergleich zu schließen, wie das Abhilfegrundurteil umgesetzt werden soll. Das Gericht kann ihnen Fristen setzen. Wenn ein Vergleich von vornherein aussichtslos ist, können die Parteien das Gericht bitten, gleich ein vollständiges Urteil zu fällen, das die Stufen 1 und 3 umfasst. Das hat der Rechtsausschuss neu ins Gesetz aufgenommen.

Der Vergleich soll vor allem ein Prüf- und Verteilungssystem enthalten, das der Unternehmer selbst durchführt. Das Gericht muss den Vergleich genehmigen und dabei die Angemessenheit und die Verbraucherinteressen prüfen.

Der Vergleich wird im Verbandsklageregister bekannt gegeben und bindet die dort angemeldeten Verbraucher. Diese können aber innerhalb eines Monats ihren Austritt aus dem Vergleich erklären und ihre Ansprüche individuell einklagen.

3) Abhilfeendurteil

Wenn kein Vergleich zustande kommt oder eine Revision entschieden ist, fällt das Gericht ein Abhilfeendurteil. Wird ein kollektiver Gesamtbetrag gefordert, verurteilt das Gericht den Unternehmer zur Zahlung eines Betrags an den Sachwalter. Den Betrag kann das Gericht schätzen und dabei alle angemeldeten Ansprüche als berechtigt annehmen. Der Verband muss aber Anhaltspunkte für die Höhe der Ansprüche liefern.

Das Gericht legt auch die Vergütung und Auslagen des Sachwalters für das folgende Umsetzungsverfahren vorläufig fest und verurteilt den Unternehmer zu deren Zahlung an den Sachwalter.

Das Abhilfeendurteil kann ebenfalls mit Revision angefochten werden.

Ein unabhängiger Sachwalter verteilt die Gelder an die Verbraucher

Das OLG bestellt einen unabhängigen Sachwalter, der die Gelder an die Verbraucher verteilt. Er kann ein Rechtsanwalt, Steuerberater, Betriebswirt, Insolvenzverwalter oder Wirtschaftsprüfer sein, der über die erforderlichen personellen und technischen Ressourcen verfügt. Die Parteien können Vorschläge machen, die das Gericht aber nicht binden. Sie können den Sachwalter auch wegen Befangenheit oder fehlender Eignung ablehnen. Der Unternehmer trägt die Kosten des Sachwalters und des Umsetzungsverfahrens.

Der Sachwalter erhält vom Unternehmer den kollektiven Gesamtbetrag und die vorläufigen Kosten. Er legt diese in einen separaten Umsetzungsfonds an und zahlt daraus die Ansprüche der Verbraucher, die sich zum Verbandsklageregister angemeldet haben. Er prüft die Ansprüche nach den Maßstäben des Abhilfegrundurteils und verlangt von den Verbrauchern die entsprechenden Nachweise. Er kann hierfür Fristen setzen, ein Online-Portal einrichten und/oder Legal Tech Tools nutzen. Er teilt den Parteien seine Prüfungsergebnisse mit. Die Parteien können diesen Ergebnissen widersprechen. Der Sachwalter entscheidet zunächst selbst über den Widerspruch. Die Parteien können dann jeweils eine gerichtliche Entscheidung des zuständigen Oberlandesgerichts beantragen, die unanfechtbar ist.

Die gerichtliche Überprüfungsmöglichkeit wurde vom Rechtsausschuss des Bundestages eingeführt. Sie schränkt die Zulässigkeit der späteren individuellen Klage der Parteien ein: Diese ist nur möglich, soweit der jeweilige Kläger seinen Anspruch im Widerspruchsverfahren nicht hätte geltend machen können. Das kann z.B. der Fall sein, wenn ein Verbraucher seinen Anspruch nur mit anderen Beweismitteln als den im Abhilfegrundurteil vorgesehenen belegen kann. Der Unternehmer kann so auch individuelle Einwendungen gegen den Anspruch des Verbrauchers verfolgen, die im Abhilfeverfahren unzulässig waren.

Der Sachwalter informiert die Parteien, wenn der kollektive Gesamtbetrag nicht für alle Ansprüche ausreicht. Dann verteilt er die Gelder gleichmäßig. Der Verband kann beim Oberlandesgericht eine Erhöhung des kollektiven Gesamtbetrages beantragen. Dann wird das Umsetzungsverfahren ausgesetzt. Das Gericht kann den Unternehmer zu einem weiteren kollektiven Gesamtbetrag verurteilen.

Das Gericht überwacht den Sachwalter und legt seine Vergütung und Auslagen fest. Am Ende legt der Sachwalter eine Schlussrechnung und einen Schlussbericht vor. Der Unternehmer kann die Schlussrechnung beanstanden. Das Gericht prüft den Bericht und stellt die Beendigung des Umsetzungsverfahrens und die endgültigen Kosten per Beschluss fest. Ein eventueller Restbetrag aus dem Gesamtbetrag und/oder den vorläufigen Kosten wird vom Sachwalter an den Unternehmer zurückgezahlt.

Die Parteien können den Sachwalter auf Schadensersatz in Anspruch nehmen, wenn er seine Pflichten vorsätzlich oder fahrlässig zu ihren Lasten verletzt hat. Das Gericht kann vom Sachwalter eine angemessene Berufshaftpflichtversicherung verlangen.

Das Gesetz lässt viele praktische Fragen unbeantwortet

Die Durchführbarkeit des neuen Verfahrens ist völlig ungewiss. Das VDuG gibt nur einen groben Rahmen vor; viele relevante Fragen müssen in der Praxis geklärt werden. So ist etwa fraglich, wie das Gericht den kollektiven Gesamtbetrag schätzen kann; in vielen Fällen dürfte es zu späteren Erhöhungsverfahren oder substanziellen Rückzahlungen kommen. Die Gerichte können zwar auf ihre Erfahrungen in anderen Formen von Massenverfahren zurückgreifen. Sie benötigen aber auch die erforderlichen Ressourcen, um Massenverfahren bewältigen zu können – sowohl genügend Richter als auch eine moderne digitale Technik.

Das Umsetzungsverfahren wirft ebenfalls viele Fragen auf, vor allem zur Art und Weise, wie der Sachwalter die Ansprüche der Verbraucher überprüft. Die Praxis wird davon abhängen, wie konkret das Gericht im Abhilfegrundurteil die Anspruchsnachweise und die Berechnungsmethode festgelegt hat.

Das Umsetzungsverfahren dürfte zudem sehr lange dauern und kaum, wie vom Gesetzgeber beabsichtigt, Gerichtskapazitäten einsparen. Der Sachwalter trifft Einzelfallentscheidungen, wenn auch nach vorgegebenen Kriterien. Verbraucher und Unternehmer können jeweils Widerspruch einlegen und eine gerichtliche Überprüfung verlangen. Immerhin entscheidet dann ein eingearbeitetes Oberlandesgericht und nicht zahlreiche unterschiedliche Gerichte. Darüber hinaus sind für Fragen, die der Sachwalter nicht schematisch entscheiden kann, auch noch individuelle Gerichtsverfahren vor anderen Gerichten möglich. 

Die Bundesregierung erwartet, dass Verbraucher von Individualklagen absehen und sich einer Verbandsklage anschließen, um gerichtliche Folgeverfahren zur Durchsetzung von Leistungsansprüchen zu vermeiden. Allerdings geben Verbraucher mit der Anmeldung die Prozessführung komplett an einen Verband ab. Es wird daher – insbesondere rechtsschutzversicherte – Anspruchsteller geben, die ihre Ansprüche lieber individuell geltend machen. 

Die Abhilfeklage wird vielmehr dazu führen, dass Anspruchssteller, die vorher untätig geblieben wären, geringere Beträge eher gerichtlich geltend machen. Denn die Registrierung beim der Verbandsklage stellt eine niedrigere Hürde dar, als selbst zu klagen oder einen Rechtsanwalt zu mandatieren. Die Anmeldung im Verbandsklageregister nach der mündlichen Verhandlung ermöglicht Verbrauchern eine bessere Erfolgsprognose der Abhilfeklage. Es wird also insgesamt zu mehr Rechtsstreitigkeiten kommen.

Unternehmen müssen Vor- und Nachteile der prozessualen Abwicklung abwägen

Die Abhilfeklage ist ein zweischneidiges Schwert für die Unternehmen: Sie kann zu einer effektiven und schnellen Beilegung von Massenstreitigkeiten beitragen, aber auch zu einer erheblichen Belastung und Unsicherheit führen.

Das neue Abhilfeklageverfahren könnte für Unternehmen von Vorteil sein, wenn sie dadurch Individualklagen vermeiden und Forderungen gebündelt abwehren können. Das wird jedoch eher ein Ausnahmefall bleiben.

Die Umsetzung der beiden Gerichtsentscheidungen kann ebenso zeitaufwendig sein wie die individuellen Klagen der Verbraucher, die sich nach bisherigen Erfahrungen mit dem Musterfeststellungsverfahren über Jahre hinziehen. Unsere beigefügte Visualisierung des Abhilfeverfahrens verdeutlicht, dass die Hälfte der erforderlichen Schritte allein auf die Umsetzung entfällt. Hinzu kommt, dass das Umsetzungsverfahren nach der Abhilfeklage für die Unternehmen sehr kostspielig werden kann, da sie sämtliche Kosten zu tragen haben.

Unternehmen werden sich daher in der ersten Phase des Gerichtsverfahrens konsequent verteidigen. Neben dem Bestehen der Ansprüche werden voraussichtlich zwei Zulässigkeitsvoraussetzungen umstritten sein: Die Klagebefugnis des Verbands kann insbesondere dann zweifelhaft sein, wenn er erst kurzfristig anlassbezogen gegründet wurde; auch die Art der Finanzierung ist relevant. Bei der Frage, wann die Ansprüche im Wesentlichen gleichartig sind, ist nach der Änderung im Rechtsausschuss offen, welche Kriterien die Gerichte anwenden werden.

Unternehmen sollten abwägen, wann es günstiger ist, ein solches Verfahren von Anfang an zu vermeiden, indem sie transparent mit den Verbrauchern kommunizieren und das Beschwerdemanagement für Verbraucheransprüche verbessern. Materielle Vergleiche mit dem Verband im Verfahren vor dem Abhilfegrundurteil sind schon deshalb unwahrscheinlich, weil die betroffenen Verbraucher noch nicht feststehen.

Wenn ein Abhilfegrundurteil rechtskräftig geworden ist, kann ein Unternehmen ein langwieriges und kostspieliges Umsetzungsverfahren nur durch einen Abwicklungsvergleich abwenden: so kann es die Auszahlungsmodalitäten mitbestimmen und ein bis drei weitere Entscheidungen von Sachwalter bzw. Gericht in jedem Einzelfall einsparen. Dadurch kann ein Unternehmen die Kosten, die Prüfung der einzelnen Ansprüche und die dabei eingesetzten Legal Tech-Tools beeinflussen. Ob sich ein Vergleich lohnt, wird von der Art der Ansprüche und dem Entgegenkommen des Verbandes abhängen.

Bewertung und Ausblick

Die Einführung der Abhilfeklage läutet ein neues Zeitalter in der prozessualen Abwicklung von Massenschäden ein. Allerdings vollzieht sich diese Zeitenwende nicht in Form einer Revolution. Vielmehr setzt das VDuG auf eine behutsame Weiterentwicklung des bestehenden Systems. Die Praxis wird zeigen, inwieweit von diesen Möglichkeiten Gebrauch gemacht werden wird. 

Durch die EU-Verbandsklagerichtlinie wurden in vielen europäischen Ländern gleichzeitig erhebliche Änderungen im Bereich der kollektiven Rechtsdurchsetzung veranlasst. Unternehmen sollten angesichts der zunehmenden europäischen Harmonisierung im Bereich Verbraucherschutz auch die Möglichkeiten im Ausland im Blick behalten, die teilweise weitergehende Instrumente zur kollektiven Rechtsdurchsetzung wie beispielsweise "class actions" vorsehen oder einführen. Der Bereich Verbraucherschutz bleibt dynamisch und unterliegt einem stetigen Wandel, der neue Herausforderungen und Chancen für alle Beteiligten mit sich bringt.

Zusammenfassung

Die Abhilfeklage ist ein neues Instrument, das Verbraucherverbänden erlaubt, Leistungsansprüche von Verbrauchern gegen Unternehmen gesammelt einzuklagen. Das Gesetz ist am 13 Oktober 2023 in Kraft getreten; es soll den Verbraucherschutz stärken und die Rechtsdurchsetzung erleichtern. Zahlreiche Detailfragen für die Praxis sind aber noch ungeklärt. 

  • Die Abhilfeklage ist eine mögliche Alternative zu Musterfeststellungsverfahren, Pilotverfahren, Unterlassungsklagen oder Sammelklage-Inkasso per Abtretungsmodell.
  • Die Abhilfeklage kann alle bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten zwischen Verbrauchern und Unternehmern betreffen, die im Wesentlichen gleichartige Ansprüche von mindestens 50 Verbrauchern ermöglichen. Die Verbraucher können das Verfahren nicht aktiv beeinflussen, sondern können ihre Ansprüche bis drei Wochen nach der mündlichen Verhandlung im Verbandsklageregister anmelden.
  • Das Gerichtsverfahren ist dreistufig: In der ersten Stufe entscheidet das Oberlandesgericht am Sitz des beklagten Unternehmers, ob die Ansprüche bestehen und wie sie berechnet werden (Abhilfegrundurteil). In der zweiten Stufe sollen die Parteien einen Vergleich aushandeln, wie die Ansprüche erfüllt werden können (Vergleichsphase). Scheitert dies, folgt die dritte Stufe: Das Gericht legt in einem zweiten Urteil einen kollektiven Gesamtbetrag fest (Abhilfeendurteil). 
  • Nach dem Gerichtsverfahren übernimmt ein vom Gericht bestellter Sachwalter die Prüfung und Auszahlung der individuellen Ansprüche der Verbraucher (Umsetzungsverfahren). Die Verbraucher und das Unternehmen können die Entscheidungen des Sachwalters gerichtlich überprüfen lassen.

Die Abhilfeklage birgt für die Unternehmen einige Risiken und Herausforderungen: Sie müssen mit einer hohen Anzahl von potenziellen Anspruchstellern rechnen, die sich durch die vergleichsweise niedrige Hürde zur Geltendmachung ihrer Ansprüche, der Anmeldung im Register, motiviert fühlen könnten. Sie müssen sich auf eine langwierige gerichtliche Auseinandersetzung einstellen. Sie müssen sich mit einem Sachwalter abfinden, der ihre Zahlungsverpflichtungen überwacht und gegebenenfalls vollstreckt. Und sie müssen die Kosten des Verfahrens tragen, wenn sie unterliegen.

Das Verfahren wirkt schwerfällig (siehe Visualisierung) und viele Fragen in der Praxis sind offen. Ob die Abhilfeklage als hilfreiche Alternative zu den jetzigen Möglichkeiten angenommen wird, muss sich zeigen. Vor allem über die Berechtigung von Verbänden und die Gleichartigkeit von Ansprüchen wird es Streit geben. Unternehmen sollten daher Strategien entwickeln, wie sie sich in dem neuen Verfahren verteidigen oder es von vornherein vermeiden könnten. 

Nach einem Abhilfegrundurteil zu ihren Lasten können Unternehmen mit einem Abwicklungsvergleich zumindest das langwierige und teure Umsetzungsverfahren mit dem Sachwalter vermeiden. Das gibt ihnen mehr Kontrolle über die Verteilung und kann insgesamt zu Kosteneinsparungen führen. 

Unternehmen können aber auch von einer Verbandsklage profitieren, wenn sie dadurch Individualklagen vermeiden oder abwehren können.

Der Bereich Verbraucherschutz bleibt dynamisch. Durch die EU-Verbandsklagerichtlinie wurden in vielen europäischen Ländern gleichzeitig erhebliche Änderungen im Bereich der kollektiven Rechtsdurchsetzung veranlasst. Unternehmen sollten auch die Möglichkeiten der Rechtsdurchsetzung im Ausland im Blick behalten.

Client Bulletin Abhilfeklage II Übersicht