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Endgültige Einigung über EU-Richtlinie zur Plattformarbeit

Nach langem Ringen haben sich die EU-Gesetzgebungsorgane auf einen – finalen – Kompromiss über die Richtlinie zur Plattformarbeit geeinigt, welche die Arbeitsbedingungen für Personen, die Plattformarbeit leisten, in der EU verbessern soll. Dieser weicht in vielen Punkten vom „Handshake-Agreement“ aus dem Dezember 2023 (hierzu unser Blogpost vom 13. Dezember 2023) ab. Die nun bevorstehende Verabschiedung bedeutet das Ende von über zwei Jahre andauernden Verhandlungen über die Richtlinie.

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Hintergrund

Tätigkeiten, die mittels einer „Vermittlung“ durch eine digitale Arbeitsplattform erfolgen (z.B. im Bereich der Personenbeförderung, Essenslieferung oder Reinigungstätigkeiten), werden oftmals auf Grundlage freier Dienstverträge verrichtet, obwohl sie im Einzelfall in einem Arbeitsverhältnis zu der Plattform stehen. Der EU-Gesetzgeber sah daher die Schaffung von Regelungen als notwendig an, um insbesondere den Status der Personen, die Plattformarbeit verrichten, zu klären.

Hierbei versuchten seit Dezember 2021 die Organe der EU einen Kompromiss über die Plattformrichtlinie zu erzielen, der einerseits die Rechte der vermeintlich freien Mitarbeiter stärkt und andererseits auch die berechtigten Interessen der Plattformen wahrt und vor allem die fein austarierten nationalen Regelungen über das Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses nicht „aushebelt“. Im Dezember 2023 schien erstmalig ein Kompromiss zwischen dem Rat der EU und dem europäischen Parlament gefunden worden zu sein. Dem damaligen Regelungsvorschlag zufolge sollten Personen, die Plattformarbeit verrichten, im Ergebnis als Arbeitnehmer angesehen werden, wenn zwei von fünf in der Richtlinie festgelegten Kriterien erfüllt sind. Wurde der Schwellenwert erreicht („zwei aus fünf“), sollte das nationale Recht in Umsetzung der Richtlinie eine Vermutungsregel vorsehen, nach welcher die Plattform darlegen und notfalls beweisen müsste, dass kein Arbeitsverhältnis nach nationalem Recht besteht.

Ähnlich wie im Fall des Bruchs einer bereits erteilten Zusage im Fall der Lieferkettensorgfaltspflichten-Richtlinie wurde diese vermeintlich sicher geglaubte Einigung bereits wenige Tage später aufgekündigt, weil die geplante Regelung bei einer Abstimmung der Mitgliedstaaten am 22. Dezember 2023 nicht die erforderliche Mehrheit erhalten hatte. So hatte unter anderem Deutschland dem Vorschlag aus innenpolitischen Gründen nicht (mehr) zugestimmt („German Vote“). Ebenfalls stimmte nun Frankreich dem ursprünglich getroffenen Kompromiss nicht zu. Die Einigung war daher unter der Ratspräsidentschaft Spaniens vorerst gescheitert.

Anfang dieses Jahres nahmen die Bemühungen um die Richtlinie mit der Übernahme der Ratspräsidentschaft Belgiens wieder Fahrt auf. Bereits der hierbei erarbeitete Kompromissvorschlag vom 8. Februar 2024 sah den ursprünglichen „2 aus 5“-Test nicht mehr vor. Dennoch gelang es dem belgischen Ratsvorsitz zunächst nicht, die notwendige Mehrheit zu finden. Bei der Abstimmung am 16. Februar 2024 scheiterte auch dieser Kompromissvorschlag, da sich Frankreich, Deutschland, Estland und Griechenland enthalten wollten, was im Rahmen des EU-Gesetzgebungsverfahrens als „Nein“ gewertet worden wäre. 

Nun doch: Richtlinie wird verabschiedet

Doch nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern: Nach weiteren Verhandlungen kam in der Ratssitzung vom 11. März 2024 die qualifizierte Mehrheit doch noch zustande. Estland und Griechenland brachen die Sperrminorität (wohingegen Deutschland und Frankreich an ihrer Enthaltung festhielten) und ermöglichten so die Einigung. Die Befürchtung, dass wegen der bevorstehenden Neuwahl des Europäischen Parlaments im Juni 2024 und damit dem Ende der Legislaturperiode die bisherigen Bemühungen um die Richtlinie ins Leere laufen könnten, verwirklichte sich damit nicht.

Inhalt des finalen Rats-Entwurfs

Laut dem Rats-Entwurf soll die Richtlinie die über 28 Millionen Plattform-Beschäftigten in der EU (im Jahr 2025 sollen es schätzungsweise 43 Millionen sein) schützen und Mindeststandards gewähren. Gleichzeitig sollen aber auch die nationalen Arbeitssysteme der Mitgliedstaaten geachtet werden. Der Begriff des Plattform-Beschäftigten meint hierbei „jede Person, die Plattformarbeit leistet und nach den Rechtsvorschriften, Kollektiv- bzw. Tarifverträgen oder Gepflogenheiten der Mitgliedstaaten einen Arbeitsvertrag hat oder als in einem Arbeitsverhältnis stehend gilt, wobei die Rechtsprechung des [Europäischen] Gerichtshofs zu berücksichtigen ist“ (Art. 2 (1) (4) des finalen RL-Entwurfs).

Klärung des Status von Plattform-Beschäftigten

Zentrales Element der Richtlinie ist die Einführung einer gesetzlichen Vermutung in Bezug auf den Beschäftigtenstatus von Personen die Plattformarbeit verrichten. 

Artikel 5 des finalen RL-Entwurfs lautet nun wie folgt:

„(1) Das Vertragsverhältnis zwischen einer digitalen Arbeitsplattform und einer Person, die Plattformarbeit über diese Plattform leistet, wird rechtlich als Arbeitsverhältnis angesehen, wenn gemäß den nationalen Rechtsvorschriften, Kollektiv- bzw. Tarifverträgen oder den Gepflogenheiten der Mitgliedstaaten und unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Gerichtshofs Tatsachen, die auf Kontrolle und Steuerung hindeuten, festgestellt werden. Möchte die digitale Arbeitsplattform die gesetzliche Vermutung widerlegen, hat sie nachzuweisen, dass das betreffende Vertragsverhältnis kein Arbeitsverhältnis im Sinne der in den Mitgliedstaaten geltenden Rechtsvorschriften, Tarifverträge oder Gepflogenheiten ist, wobei die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu berücksichtigen ist.

(2) Zu diesem Zweck legen die Mitgliedstaaten eine wirksame widerlegbare gesetzliche Vermutung des Arbeitsverhältnisses fest, die eine Erleichterung des Verfahrens zugunsten von Personen, die Plattformarbeit leisten, darstellt; ferner stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass diese gesetzliche Vermutung nicht dazu führt, dass die Belastung von Personen, die Plattformarbeit leisten, oder von ihren Vertretern durch Anforderungen im Verfahren zur Bestimmung ihres Beschäftigungsstatus erhöht wird.

(3) Die gesetzliche Vermutung gilt in allen einschlägigen Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren, wenn es um die korrekte Bestimmung des Beschäftigungsstatus der Person geht, die Plattformarbeit leistet.

Die gesetzliche Vermutung gilt nicht in Verfahren, die Steuerfragen, Strafsachen oder Sozialversicherungsfragen betreffen. Die Mitgliedstaaten können jedoch die gesetzliche Vermutung in diesen Verfahren nach nationalem Recht anwenden.

(4) Personen, die Plattformarbeit leisten, und – im Einklang mit den nationalen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten – ihre Vertreter haben das Recht, das in Absatz 3 Unterabsatz 1 genannte Verfahren zur Bestimmung des korrekten Beschäftigungsstatus der Person, die Plattformarbeit leistet, einzuleiten. 

(5) Ist eine zuständige nationale Behörde der Auffassung, dass eine Person, die Plattformarbeit leistet, möglicherweise falsch eingestuft ist, so leitet sie im Einklang mit den nationalen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten geeignete Maßnahmen oder Verfahren ein, um den Beschäftigungsstatus dieser Person zu bestimmen. 

(6) Bei Vertragsverhältnissen, die vor dem [Zeitpunkt des Ablaufs der Umsetzungsfrist, also zwei Jahre nach dem Tag des Inkrafttretens der Richtlinie] eingegangen wurden und zu [diesen Zeitpunkt] noch laufen, gilt die in diesem Artikel genannte gesetzliche Vermutung nur für den Zeitraum ab diesem Datum.“

Den Mitgliedstaaten wird insoweit ein weitreichender Gestaltungsspielraum eingeräumt, was einerseits sinnvoll erscheint, um nationalen Besonderheiten Rechnung zu tragen, andererseits aber zu (spannenden) Folgefragen führt. Zumindest dem Verfasser fehlt es (aus deutscher Sicht) derzeit noch an der Kreativität zu bestimmen, wie genau eine entsprechende Vermutungsregel in Bezug auf den Arbeitnehmerstatus von Personen, die Plattformarbeit leisten, geregelt werden könnte. Es wird sich die Frage stellen, wie stark bzw. schwach ausgeprägt das Maß an „Kontrolle und Steuerung“ sein muss, zu dem Tatsachen vorgetragen werden müssen, damit sodann die Plattform darlegen und notfalls beweisen muss, dass die in § 611a kodifizierten Kriterien für die Annahme eines Arbeitsvertrages nicht vorliegen. Schwierigkeiten bereitet hier, dass auch nach § 611a BGB das Vorliegen von „Kontrolle und Steuerung“ – gerade in Bezug auf Plattformarbeit (siehe insbesondere BAG v. 1. Dezember 2020 – 9 AZR 102/20) – ein wesentliches Kriterium ist. Jedoch wäre es regelungstechnisch wenig überzeugend, wenn die Tatsachen, die vorgetragen werden müssen, damit für die klagende Plattformarbeit leistende Person die Erleichterung greift, dieselben Tatsachen sind, die ohne die Erleichterung vorgetragen werden müssen. Insoweit kann mit Spannung verfolgt werden, wie der deutsche Gesetzgeber die Beweislastumkehr in das deutsche Recht integrieren möchte. 

Regelungen für die Nutzung von Algorithmen für das Personalmanagement

Neben der Vermutungsregel beinhaltet die Richtlinie auch Regelungen zur Verwendung von Algorithmen bei der Plattformarbeit. Es soll sichergestellt werden, dass Plattform-Beschäftigte über die Verwendung automatisierter Überwachungs- und Entscheidungssysteme, welche in Bezug auf ihre Einstellung, ihre Arbeitsbedingungen und ihren Verdienst zum Einsatz kommen, ordnungsgemäß informiert werden. 

Die Verarbeitung von bestimmten Datensätzen durch diese Systeme soll zudem verboten werden. Darunter fallen personenbezogene Daten wie etwa biometrische Daten, Daten über den emotionalen oder psychischen Zustand, der Religionszugehörigkeit oder der Sexualität der Plattform-Beschäftigten, aber auch Daten im Zusammenhang mit privaten Gesprächen oder Informationen außerhalb der beruflichen Tätigkeit des Plattform-Beschäftigten.

Daneben soll durch die Richtlinie gewährleistet werden, dass automatisierte Entscheidungen der menschlichen Aufsicht und Bewertung unterliegen. Dies gilt insbesondere für wichtige Entscheidungen, die von einem Algorithmus beeinflusst werden. Darunter fallen etwa Entscheidungen über die Vergütung, die Kontosperrung oder die Kündigung. Diese Entscheidungen müssen letztlich immer von einem Menschen getroffen werden. Die Richtlinie geht daher über das geltende EU-Datenschutzrecht hinaus. Insgesamt soll dies zu mehr Transparenz und Datenschutz bei dem Einsatz von Algorithmen beitragen.

Ausblick

Der vereinbarte Text muss nun formell vom Parlament gebilligt werden. Die Abstimmung soll in der Plenarsitzung am 24. April 2024 erfolgen. Anschließend muss er auch formell vom Rat angenommen werden. Nach seiner Veröffentlichung im Amtsblatt der EU haben die Mitgliedstaaten zwei Jahre Zeit, die Bestimmungen der Richtlinie in nationales Recht zu übernehmen.

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