Skip to content

Umfrage: Großunternehmen zeigen sich weitgehend unbeeindruckt von Russland-Konflikt

  • Umsatzerwartungen bleiben trotz gestiegener Kosten und gestörter Lieferketten positiv
  • Investitionstätigkeit wird fortgesetzt; Zugang zu Finanzierungen weiterhin offen
  • Unternehmen wollen keine Abkehr von der Energiewende
  • Kriegsende von der Mehrheit frühestens für den Herbst oder erst in 2023 erwartet
  • Ein Drittel erwartet Normalisierung der Russland-Beziehungen frühestens in zehn Jahren

Die Umsatzprognosen in den größten deutschen Unternehmen bleiben entgegen aller Erwartungen trotz des Krieges in der Ukraine gut: Rund 80 Prozent der Unternehmen haben seit der Invasion Russlands in der Ukraine keine Umsatzverluste verzeichnet. 74 Prozent der Entscheider erwarten gleichbleibende oder steigende Umsätze für 2022. Im Hinblick auf das Kriegsende gehen 38 Prozent der Führungskräfte davon aus, dass der Konflikt noch mindestens ein Jahr dauern wird – 34 Prozent erwarten eine Erholung der EU-Russland-Beziehungen frühestens in zehn Jahren.

Dies sind die wesentlichen Ergebnisse einer Umfrage der Wirtschaftskanzlei Allen & Overy, durchgeführt unter Führungskräften der 1. und 2. Ebene bei deutschen Unternehmen mit einem Jahresumsatz von mehr als 500 Millionen Euro. „Uns hat das Ergebnis überrascht, denn in unserer Beratungspraxis erleben wir vor allem Unternehmen, die schon heute massiv unter Störungen der Lieferketten, aber auch unter den verhängten Sanktionen sowie erschwerten Finanzierungsbedingungen und vor allem den steigenden Energiepreisen leiden“, so Wolf Bussian, Managing Partner der Kanzlei in Deutschland. Bussian weiter: „Dass die Stimmung dennoch überwiegend positiv ist, mag ein Indiz dafür sein, dass viele Unternehmen aufgrund der letzten Jahre gelernt haben, mit Krisen umzugehen. Allerdings: Die Befragten bestätigen zugleich erhebliche Kostensteigerungen. Daher dürften entweder zurückgehende Erträge oder Preissteigerungen die Folge sein – oder Beides.“

Für die – derzeit noch – positive Grundstimmung führt die Umfrage mehrere Gründe an: 58 Prozent der Befragten sagen, dass sie „überhaupt nicht“ von den Sanktionen betroffen seien – nur drei Prozent seien „stark“ betroffen. Udo Olgemöller, Partner und Sanktionsexperte von Allen & Overy, bestätigt, dass die Sanktionen je nach Wirtschaftssektor eine sehr unterschiedliche Bedeutung haben und erklärt weiter: „Zu den größten Herausforderungen zählt, dass komplexe und neuartige Sanktionsreglungen in kürzester Zeit verabschiedeten werden und dann sowohl die EU als auch die Behörden der 27 Mitgliedstaten für deren Umsetzung zuständig sind. Das führt oftmals zu unterschiedlichen Interpretationen derselben Regelungen und damit zu Rechtsunsicherheit.“

Auch die Finanzierungsmärkte stimmen Vorstände und Geschäftsführer noch positiv – 78 Prozent sehen keinerlei Auswirkungen auf die Unternehmensfinanzierung; bei Unternehmen mit einem Jahresumsatz von mehr als einer Milliarde Euro sehen sogar 91 Prozent keinerlei Engpässe. „Dieses Ergebnis deckt sich mit unserer Wahrnehmung, dass die Finanzierungsmärkte nach einem ersten Schock nach Ausbruch des Russland-Ukraine-Krieges wieder für Neufinanzierungen offenstehen. Allerdings haben wir in Transaktionen ein weiter gestiegenes Zinsniveau gesehen, was – neben der erwarteten Änderung der EZB- Zinspolitik – sicherlich auch einen Unsicherheitsaufschlag mit Blick auf das geänderte politische und wirtschaftliche Umfeld beinhaltet“, so Jan-Hendrik Bode, Counsel und Finanzierungsexperte bei Allen & Overy. „Anders stellt sich die Situation aber bereits jetzt für Unternehmen dar, die Zulieferer oder eigene Produktionsstandorte in der Ukraine haben und bei denen Produktions- und Umsatzeinbrüche drohen. Für diese Unternehmen wird nicht nur der Zugang zu neuen Finanzierungen schwerer. Auch für deren bestehende Finanzierungen stellen sich bereits heute schwierige Fragen, zum Beispiel ob betroffene Unternehmen vereinbarte Finanzkennzahlen auch zukünftig werden einhalten können.“

Die befragten Unternehmen halten darüber hinaus an ihren geplanten Investitionen fest (77 Prozent). Das gilt nicht nur für Anlagen, Logistik/Lagerhaltung und Personal – sondern auch für Unternehmenstransaktionen. Michael Weiß, Partner und Experte für Mergers & Acquisitions, sieht dafür mehrere Gründe: „Die Umfrage nimmt Großunternehmen in den Blick, die in der Regel breiter aufgestellt sind und daher an ihren Vorhaben festhalten. Die Krise wirkt sich insbesondere auf Sektoren aus, die sich ohnehin in einer Transformation befinden – wie die Auto-, Chemie- oder Pharmaindustrie und, in abgeschwächter Form, die Technologiebranche. Deren Umbau wird durch die aktuellen Ereignisse nicht aufgehalten, sondern perspektivisch eher beschleunigt.“ Und Weiß fährt fort: „Ich erwarte daher, dass nach einer kurzen Phase des Innehaltens die Transaktionsmärkte wieder an Fahrt aufnehmen. Ein Sonderfall ist die Energiewirtschaft. Hier ist eine Prognose besonders schwierig.“

Die Russland-Krise wird, anders als die Corona-Krise, von vornherein als „dauerhaft“ eingeschätzt. Vor diesem Hintergrund überdenken die Unternehmen ihre internationale Aufstellung – 43 Prozent nehmen dabei insbesondere ihre Lieferketten in den Blick. „Auch wenn die Globalisierung nicht vollständig zurückgedreht werden wird – der, auch juristisch, abgesicherten Belastbarkeit und Widerstandsfähigkeit von Produktions- und Lieferketten wird künftig eine zentrale Rolle zukommen“, erwartet Astrid Krüger, Partnerin und Expertin für Mergers & Acquisitions. Das Prinzip „Sicherheit vor Kosteneffizienz“ scheint auch für die künftige Energieversorgung zu gelten. 47 Prozent der befragten Unternehmen wollen ihre Energieversorgung neu ausrichten und dabei ausdrücklich keine Abkehr von der Energiewende: 85 Prozent setzen auf den Ausbau erneuerbarer Energien als Kern ihrer künftigen Versorgungsstrategie.