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Die Abhilfeklage kommt nach Deutschland

Verbraucherverbände werden berechtigt sein, Ansprüche gegen Unternehmen auf Leistung gesammelt einzuklagen.

Mit Einführung der Abhilfeklage steigt das Risiko, dass Unternehmen sich aufwendig gegen Forderungen verteidigen müssen. Ab Juni 2023 sollen die neuen Regelungen gelten.

Ab dem 25. Juni 2023 werden Verbraucherschutzverbände ein neues rechtliches Instrument haben, um im Namen von Verbrauchern kollektiven Rechtsschutz gegen Unternehmen zu suchen. Die Abhilfeklage wird es den Verbänden ermöglichen in Fällen, die mindestens 50 Verbraucher betreffen, auf Leistung zu klagen, beispielsweise auf Schadensersatz, Vertragsauflösung, Preisminderung oder Kaufpreiserstattung. Der Gesetzentwurf zur Umsetzung der EU-Richtlinie 2018/1828 über Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher (EU-Verbandsklagenrichtlinie) wurde am 16. Februar 2023 vorgestellt und muss den Gesetzgebungsprozess zügig durchlaufen, um die Juni-Frist einzuhalten.

Die Abhilfeklage wird die bestehende Musterfeststellungsklage ergänzen, die es den Verbänden erlaubt, ein verbindliches Feststellungsurteil über gemeinsame tatsächliche oder rechtliche Fragen zu erhalten, wie zum Beispiel die Wirksamkeit einer Vertragsklausel oder das Vorliegen eines Produktmangels. Verbraucher können dann das Feststellungsurteil nutzen, um ihre individuellen Ansprüche auf Schadensersatz oder andere Abhilfen in gesonderten Verfahren oder Vergleichen geltend zu machen. Viele Verbraucher wurden jedoch von den Kosten und Risiken solcher Klagen abgeschreckt.

Unter dem neuen System werden Verbraucher zwischen der Musterfeststellungsklage und der Abhilfeklage wählen können. Die Einführung der Abhilfeklage wird das Risiko für Unternehmen erhöhen, kollektiven Klagen ausgesetzt zu sein und Zeit und Ressourcen für ihre Verteidigung aufwenden zu müssen. Unternehmen sollten daher die Entwicklung des Gesetzentwurfs beobachten und sich auf die möglichen Auswirkungen des neuen rechtlichen Instruments auf ihre Geschäftstätigkeit und ihren Ruf vorbereiten.

Was kann gefordert werden?

Die neue Abhilfeklage ermöglicht es Verbrauchern, von einem Unternehmen verschiedene Formen der Abhilfe, wie Schadensersatz, Erfüllung oder Unterlassung, für Verletzungen ihrer Rechte zu verlangen.

Der Gesetzentwurf geht über den Anwendungsbereich der EU-Verbandsklagenrichtlinie hinaus und erlaubt eine kollektive Klage nicht nur für Verstöße gegen EU-Recht, sondern auch gegen nationales Recht. Er umfasst alle materiell-rechtlichen Ansprüche von Verbrauchern gegenüber Unternehmen im Zivilrecht. Verbraucherschützer haben diese umfassende Umsetzung begrüßt. Es ist zu vermuten, dass hier eher ein Gleichlauf mit der bereits bekannten Musterfeststellungsklage geschaffen werden sollte.

Allerdings müssen die geltend gemachten Ansprüche „gleichartig“ sein. Das Gesetz definiert Ansprüche als „gleichartig“, wenn sie auf denselben oder vergleichbaren Tatsachen beruhen und dasselbe oder vergleichbares Recht auf sie anwendbar ist. In den Erläuterungen zum Referentenentwurf heißt es, dass das Gericht „schablonenhaft“ für alle Ansprüche entscheiden können muss.

Das Erfordernis der „Gleichartigkeit“ birgt dabei allerdings erhebliches Konfliktpotenzial. Der Referentenentwurf scheint von einer tendenziell engen Auslegung auszugehen. Damit könnte in der Praxis viele Abhilfeklagen schon auf der Stufe der Zulässigkeit abgewehrt werden. Es wird in Zukunft entscheidend, darauf ankommen, wie sich die Auslegung dieses Merkmals durch die Gerichte entwickelt.

Wer kann klagen?

Der Gesetzentwurf räumt bestimmten qualifizierten Verbraucherverbänden das Recht ein, zu klagen, ähnlich wie bei der bestehenden Musterfeststellungsklage. Anders als bei der US-amerikanischen Sammelklage können einzelne Verbraucher solche Verfahren nicht selbst anstrengen.

Verbraucher müssen ihre Ansprüche bis spätestens zum Tag vor der mündlichen Verhandlung in ein Klageregister eintragen. Die EU-Verbandsklagenrichtlinie überließ den Beitrittsmechanismus dem Ermessen der Mitgliedstaaten. Verbraucherschützer hatten ein Modell vorgeschlagen, das es Verbrauchern erlaubt hätte, auch nach dem Urteil noch beizutreten. Dieser Idee hat der Gesetzgeber aber glücklicherweise eine Absage erteilt. Ein rechtzeitiger Beitritt schafft frühzeitig Klarheit über den Umfang der Klage.

Auch kleine Unternehmen mit weniger als 50 Beschäftigten und einem Jahresumsatz von weniger als 10 Millionen Euro können der Klage beitreten. Auch das geht über die Anforderungen der EU-Verbandsklagenrichtlinie hinaus und entspricht dem Koalitionsvertrag der aktuellen Regierung. Die Gleichartigkeit der Ansprüche wird ein entscheidendes Thema bei Klagen sein, die sowohl kleine Unternehmen als auch Verbraucher betreffen, da diese möglicherweise nicht gleichmäßig von einer Rechtsverletzung geschädigt werden.

Die vorgeschlagene Schwelle von mindestens 50 betroffenen Verbrauchern ist niedriger als zuvor in der Diskussion angedeutet. Für die Zulässigkeit des Verfahrens genügt es sogar, dem Gericht glaubhaft zu machen, dass 50 Verbraucher betroffen sind.

Auch ausländische Verbände werden in Deutschland klageberechtigt sein.

Wie läuft das Verfahren ab?

Der Gesetzentwurf sieht ein dreistufiges Verfahren für die Abhilfe vor.

In der ersten Stufe prüft das Gericht die Zulässigkeit der Klage und die Begründetheit des Anspruchs. Wenn es dem Anspruch stattgibt, kann es ein Abhilfegrundurteil erlassen, das die konkreten Kriterien und Nachweise für die Anspruchsberechtigung der Verbraucher festlegt. Die Oberlandesgerichte sind ausschließlich zuständig, mit der Möglichkeit der Revision zum Bundesgerichtshof.

In der zweiten Stufe sollen die Parteien auf der Grundlage des Abhilfegrundurteils eine Einigung verhandeln. Wenn keine Einigung erzielt wird, erlässt das Gericht ein Abhilfeendurteil. Das Gericht bestimmt einen Betrag, den das Unternehmen an die betroffenen Verbraucher zu zahlen hat. Das Unternehmen muss diesen Betrag in einen Abhilfefonds einzahlen. Der Betrag kann später auf Antrag erhöht werden, wenn er sich als unzureichend zur Entschädigung der Verbraucher erweist. Während überschüssiges Geld später an das Unternehmen ausgezahlt wird, besteht dennoch ein erhebliches finanzielles Risiko für das jeweilige Unternehmen, da es letztlich einer unbegrenzten Nachzahlungspflicht unterliegt.

In der dritten Stufe bestellt das Gericht einen Sachwalter, der den Gesamtbetrag nach einem Verteilungsplan an die einzelnen Verbraucher auszahlt. Der Sachwalter kann ein Rechtsanwalt, ein Steuerberater, ein Betriebswirt, ein Insolvenzverwalter oder ein Wirtschaftsprüfer sein. Die Verbraucher müssen ihre Ansprüche innerhalb einer Frist beim Sachwalter anmelden. Der Sachwalter prüft die Ansprüche und erstellt einen Verteilungsplan. Das verurteilte Unternehmen hat die Kosten des Verteilungsverfahrens zu tragen.

Dem Verteilungsplan kann von dem betroffenen Unternehmen oder den Verbrauchern innerhalb einer bestimmten Frist widersprochen werden. Ein solcher Widerspruch führt jedoch nur zu einer erneuten Prüfung der Forderung durch den Sachwalter. Der Verbraucher, dessen Forderung abgelehnt wird, und das Unternehmen, das eine unbegründete Forderung bestreitet, haben weiterhin die Möglichkeit, ihre Rechte vor den ordentlichen Gerichten geltend zu machen.

Es wurde intensiv diskutiert, wie die Verbraucher im Falle eines Urteils zu ihren Gunsten ohne eine individuelle Klageerhebung zu ihrem Recht kommen können. Das derzeit vorgeschlagene Verfahren orientiert sich an dem seerechtlichen Verteilungsverfahren im deutschen Recht. Dieses etwas "exotische" Verfahren hat den Vorteil, dass es grundsätzlich keine individuellen Ansprüche der Verbraucher vorsieht. Es erfolgt jedoch eine individuelle Prüfung durch den Sachwalter.

Diese Prüfung wird sich voraussichtlich als „bottle-neck“ der Verteilung der Erlöse aus dem Verbandsklageverfahren entpuppen. Außerdem dürften Verbraucher, deren Ansprüche vom Sachwalter angelehnt werden, regelmäßig auf eine Klage vor den ordentlichen Gerichten zurückgreifen. Auf der anderen Seite wird auch das Unternehmen wohl nicht umhinkommen, sämtliche geltend gemachte Ansprüche zu prüfen, um gegebenenfalls Widerspruch einzulegen oder sich in Folgeprozessen gegen vermeintlich fehlerhaft gewährte Ansprüche zur Wehr zu setzen. Je nach Umfang des Verfahrens kommt hier auf beklagte Unternehmen also ein ganz erheblicher Aufwand zu und Abhilfeklagen mit ihren Folgeprozessen dürften die betroffenen Unternehmen über einen langen Zeitraum beschäftigen.

Welche Besonderheiten gibt es noch?

Laut dem Gesetzentwurf kann das Gericht die Vorlage von Beweismitteln anordnen und bei Nichtbefolgung Bußgelder verhängen. Der Entwurf erweitert jedoch nicht die bestehenden Anforderungen an den Umfang der Offenlegungspflicht. Das deutsche Recht erlaubt die Anordnung von Urkundenvorlage nur in sehr Ausnahmefällen. Der Entwurf bleibt somit glücklicherweise hinter dem Spielraum der EU- Verbandsklagenrichtlinie zurück, die weitreichende Beweisanordnungen ähnlich wie im US- oder UK-Recht vorsah.

Die Prozessfinanzierung wird grundsätzlich zulässig sein. Allerdings dürfen diejenigen, die ein wirtschaftliches Interesse an der Erhebung oder am Ausgang der Klage haben, wie z.B. Wettbewerber, keinen unangemessenen Einfluss auf den Prozess ausüben. Klagende Verbraucherverbände müssen eine Finanzierung durch Dritte offenlegen.

Bestimmte Vorschriften verhindern, dass Verbraucher gleichzeitig an einer Abhilfeklage teilnehmen und individuell klagen.

Das Unternehmen trägt die Kosten des Sachwalters und muss sie vorschießen. Der Sachwalter kann bei schuldhafter Pflichtverletzung schadensersatzpflichtig sein.

Zusammenfassung

Der Referentenentwurf zur Umsetzung der EU-Verbandsklagenrichtlinie sieht erstmals im deutschen Rechtsschutzsystem eine Verbandsklage auf Leistung vor.
Bisher war das deutsche Kollektivrechtsschutzsystem auf Musterfeststellungsverfahren beschränkt, die es Gerichten erlauben, Feststellungen für eine Vielzahl von Verfahren zu treffen. Kläger mussten trotzdem im Anschluss an das rechtskräftige Musterfeststellungsurteil bisher ihre Forderungen individuell durchsetzen, soweit kein Vergleich erreicht werden konnte.
Der Gesetzentwurf erlaubt es bestimmten Verbraucherverbänden, erstmals direkt Abhilfe für Verbraucher und kleine Unternehmen zu suchen, die von gleichartigen Sachverhalten betroffen sind. Er erweitert auch den Zugang zum kollektiven Rechtsschutz auf kleine Unternehmen (mit bis zu 50 Mitarbeitern oder 10 Millionen Euro Jahresumsatz). Verbraucher oder kleine Unternehmen können sich der Abhilfeklage bis spätestens zum Beginn der mündlichen Verhandlung anschließen (Opt-in).
Das Verfahren besteht aus drei Stufen. Erstens erlässt das Gericht ein Abhilfegrundurteil, wenn es die Klage für begründet hält. Zweitens können die Parteien versuchen, den Streit gütlich beizulegen. Wenn keine Einigung erzielt wird, legt das Gericht einen Gesamtzahlungsbetrag fest. Drittens bestellt das Gericht einen Sachwalter, der das Urteil umsetzt. Der Sachwalter prüft die Berechtigung jedes Verbrauchers und verteilt den Betrag entsprechend.
Eine weitere Neuheit ist, dass die Gerichte eine Anordnung zur Beweisvorlage sanktionieren können. Dies geht über die derzeitige Regelung in der Zivilprozessordnung hinaus.
Besonders relevant könnte sein, dass Abhilfeklagen auch grenzüberschreitend innerhalb der EU möglich sein werden. Das bedeutet, dass Verbände aus anderen EU-Mitgliedstaaten auch Abhilfeklagen in Deutschland erheben könnten. Ausländische Gesetzgeber können über die Mindestanforderungen der EU-Verbandsklagenrichtlinie hinaus günstigere Voraussetzungen für potentielle Kläger schaffen. Umgekehrt könnten deutsche Verbände auch Abhilfeklagen in anderen EU-Mitgliedstaaten erheben.
Mit der Einführung der Abhilfeklage steigt das Risiko, dass Unternehmen sich aufwendig auch gegen unberechtigte Ansprüche verteidigen müssen. Der Gesetzentwurf ist noch nicht verabschiedet und kann noch Änderungen unterliegen. Das Gesetz soll im Juni 2023 in Kraft treten.