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Massenentlassungen – Weitere Konkretisierung durch das BAG

Nehmen Arbeitgeber Massenentlassungen vor, sind diese nur wirksam, wenn zuvor ein ordnungsgemäßes Konsultationsverfahren durchgeführt und eine ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige („MEA“) erstattet wurde. Eine Massenentlassung liegt vor, wenn Arbeitgeber innerhalb von 30 Kalendertagen Entlassungen oberhalb eines bestimmten Schwellenwerts, der von der Zahl der im Betrieb regelmäßig Beschäftigten abhängt,vornehmen. § 17 KSchG stellt dies betreffend umfangreiche Vorgaben auf. Verletzen Arbeitgeber die ihnen insoweit auferlegten Pflichten, droht die Unwirksamkeit im Anschluss ausgesprochener Kündigungen.

Zusammenfassung

An den strengen formalen Vorgaben des § 17 KSchG sind die Kündigungen des Insolvenzverwalters der Air Berlin im ersten Versuch gescheitert. Im August 2020 hat der Insolvenzverwalter sodann die Arbeitnehmer der Air Berlin erneut gekündigt. Eine Flugbegleiterin hat gegen diese Nachkündigung Kündigungsschutzklage erhoben. Die Klage wurde in erster und zweiter Instanz abgewiesen. Das BAG (8.11.2022 – 6 AZR 15/22) hat nunmehr die Revision zurückgewiesen.

Eine Besonderheit des Falls war, dass der maßgebliche Betrieb bereits endgültig geschlossen war. Das BAG hat klargestellt, dass – bei Überschreiten der maßgeblichen Schwellenwerte durch die geplanten Nachkündigungen – das Massenentlassungsverfahren samt Konsultationsverfahren (erneut) vollständig durchzuführen ist.
Es kommt insoweit maßgeblich auf die zuletzt im Betrieb bestehenden Strukturen an, d. h. die Schwellenwerte sind auf Basis der zum Zeitpunkt der Entlassungen im (formal angenommenen) Betrieb noch vorhandenen Arbeitnehmer zu bestimmen.

Für die Frage, welche Arbeitnehmer dem geschlossenen Betrieb angehören, kommt es darauf an, ob die Arbeitnehmer zwischenzeitlich einem anderen Betrieb zugeordnet wurden. Ist dies nicht der Fall, gehören die Arbeitnehmer rein formal immer noch dem (nicht mehr existenten) Betrieb an. Grundsätzlich müssen Arbeitgeber die zuständige Arbeitnehmervertretung im Rahmen des Konsultationsverfahrens rechtzeitig informieren. An sich muss die Information so früh erfolgen, dass noch Einfluss auf die geplante Maßnahme genommen werden kann. Dies wäre im geschlossenen Betrieb rechtlich unmöglich: Mangels möglicher Einflussnahme auf die Stilllegungsentscheidung, könnte ein Konsultationsverfahren nicht mehr rechtzeitig erfolgen. Das BAG löst dieses Dilemma, indem es in solchen Konstellationen die Abmilderung der Stilllegungsfolgen als Ziel des Konsultationsverfahrens ausreichen lässt.

Das BAG hat in seinem Urteil jedoch nicht nur zu den Besonderheiten bereits stillgelegter Betriebe Stellung genommen, sondern auch generell die Anforderungen des § 17 KSchG konkretisiert:

§ 17 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 KSchG verlangt, dass Arbeitgeber bei Einleitung des Konsultationsverfahrens dem Betriebsrat einen Zeitraum mitteilen, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen. In der Praxis stellt dies Arbeitgeber vor eine Herausforderung, da unklar ist, wann das zuvor zwingend durchzuführende Konsultationsverfahren beendet sein wird. Das BAG schafft nun Klarheit: Es genügt, wenn Arbeitgeber zu Beginn des Konsultationsverfahrens über den Monat informieren, in dem nach den aktuellen Planungen die Entlassungen erfolgen sollen. Wenn Arbeitgeber den Zeitpunkt der Entlassungen im weiteren Verlauf nicht allein wegen der Dauer oder des Ergebnisses des Konsultationsverfahrens, sondern aus Gründen, die der Arbeitnehmervertretung unbekannt sind, verschieben, haben sie den Zeitraum jedoch später zu präzisieren. Ein solcher Fall liegt z. B. vor, wenn Arbeitgeber mehrere Gremien beteiligen müssen, mit diesen getrennte Konsultationsverfahren durchführen und aufgrund der Erörterung in einem dieser Verfahren den Entlassungszeitpunkt verschieben.

Das Konsultationsverfahren ist ohne Einigung der Betriebsparteien beendet, wenn Arbeitgeber annehmen dürfen, es bestehe kein Ansatz für weitere, zielführende Verhandlungen. Arbeitgebern kommt in diesem Zusammenhang ein Beurteilungsspielraum zu, wann der Beratungsanspruch erfüllt ist. Arbeitgeber müssen Rückfragen des Betriebsrats im Konsultationsverfahren nicht beantworten, wenn diese ersichtlich auf einem rechtlich nichtzutreffenden Sachverhalt basieren. Im konkreten Fall hatte die Personalvertretung weiteren Erörterungsbedarf im Hinblick auf einen vermeintlichen Betriebsübergang gesehen. Zu diesem Zeitpunkt hatte das BAG (14.5.2020 –6 AZR 235/19, BB 2023, 243 Ls., Rn. 57 ff.) jedoch bereits entschieden, dass ein solcher nicht erfolgt ist. Der Insolvenzverwalter der Air Berlin durfte mithin die von der Personalvertretung geforderte weitere Erörterung als nicht zielführend und das Konsultationsverfahren im Rahmen des ihm zustehenden Beurteilungsspielraums als beendet ansehen.

Eine nur marginale Abweichung bei den „Muss-Angaben“ i. S. d. § 17 Abs. 3 S. 4 KSchG führt nicht zur Unwirksamkeit einer MEA. Konkret fehlte bei der Angabe von 358 zu entlassenden Arbeitnehmern wohl ein Arbeitnehmer. Geht es um eine zu geringe Angabe der Zahl der zu entlassenden Arbeitnehmer, können sich jedoch ohnehin nur die Arbeitnehmer, die von der MEA nicht erfasst sind, auf die zu niedrige Angabe der Zahl berufen.

Nach § 17 Abs. 3 S. 6 KSchG haben Arbeitgeber dem Betriebsrat eine Abschrift der MEA zuzuleiten. Die Weiterleitung der Anzeige dient jedoch lediglich der Information des Betriebsrats, nicht der Erfüllung der Aufgaben der Arbeitsverwaltung. Ein Verstoß gegen § 17 Abs. 3 S. 6 KSchG führt damit nach dem BAG nicht zur Unwirksamkeit der MEA und damit auch nicht zur Unwirksamkeit ausgesprochener Kündigungen.

Praxisfolgen

Die strenge Rechtsprechung des BAG zu § 17 KSchG stellt Arbeitgeber vor erhebliche Herausforderungen. Zumindest ist es erfreulich, dass das BAG seine Rechtsprechung zu einigen umstrittenen Themen konturiert und so mehr Rechtssicherheit geschaffen hat.

Daneben gibt es leider weiterhin einige ungeklärte Fragen. Die Autoren werden diese in einem weiteren Beitrag aufzeigen und Arbeitgebern einen Leitfaden für die Praxis an die Hand geben.

Festhalten lässt sich jedenfalls, dass Arbeitgeber bei Massenentlassungen ein besonderes Augenmerk auf die formellen Verfahren legen müssen und diese auch stets in die zeitliche Planung einkalkulieren sollten. Fehler im Rahmen des Massenentlassungsverfahrens können schlimmstenfalls die Unwirksamkeit aller ausgesprochenen Kündigungen zur Folge haben.

 

Beatrice Hotze und Dr. Felicia von Grundherr, in: Betriebs-Berater | BB 11.2023 | S. 640

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