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Umsatzsteuerliche Organschaft: Das Ende der Nichtsteuerbarkeit von Innenumsätzen?

Der Bundesfinanzhof (BFH) hat am heutigen Tag zwei Entscheidungen veröffentlicht, die weitreichende Auswirkungen auf die umsatzsteuerliche Organschaft nach deutschem Recht haben werden. Zum einen ändert der BFH seine Rechtsprechung zur finanziellen Eingliederung. Zum anderen richtet er ein neues Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), um abschließend zu klären, ob an der bisherigen Annahme der Nichtsteuerbarkeit sog. Innenumsätze festgehalten werden kann. Der BFH bezweifelt dies. Damit steht ein grundlegendes Merkmal der umsatzsteuerlichen Organschaft zur Disposition. Eine Aufgabe der Nichtsteuerbarkeit von Innenumsätzen würde weitreichende Auswirkungen auf Unternehmensgruppen v.a. der Finanz- und Versicherungsindustrie sowie aus den Bereichen Real Estate, Health und Public haben.

Entscheidungen des BFH

Der BFH hat mit Urteil vom 18.01.2023 (XI R 29/22 (XI R 16/18)) sowie mit Beschluss vom 26.01.2023 (V R 20/22 (V R 40/19)) – überraschend schnell – auf die Entscheidungen des EuGH vom 1.12.2022 (EuGH-Urteile v. 1.12.2022, C-141/20, Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie und C-269/20, FA T/S; vgl. hierzu unseren Tax Blog Beitrag vom 12.12.2022 ) reagiert.

In seinem Urteil in der Rs. XI R 29/22 weist er zunächst darauf hin, dass die vom EuGH genannten Bedingungen für die Zulässigkeit der alleinigen Steuerschuldnerschaft des Organträgers für die Umsätze einer Organschaft nach deutschem Recht gewährleistet sind. Zudem setzt er die Vorgaben des EuGH zur finanziellen Eingliederung um, verbindet diese allerdings mit der bestehenden Rechtsprechung des BFH, wonach nicht alle drei Eingliederungsmerkmale gleich stark ausgeprägt sein müssen. In Änderung seiner bisherigen Rechtsprechung sieht der BFH die finanzielle Eingliederung nun auch dann als gegeben an, wenn der Gesellschafter zwar über nur 50 % der Stimmrechte verfügt, die erforderliche Willensdurchsetzung bei der Organgesellschaft aber dadurch gesichert ist, dass er eine Mehrheitsbeteiligung am Kapital der Organgesellschaft hält und er den einzigen Geschäftsführer der Organgesellschaft stellt. Diese Entscheidung war dem Grunde nach absehbar.

Die zweite am heutigen Tag veröffentlichte Entscheidung des BFH ist indes überraschend und birgt Sprengstoff.

Mit Beschluss in der Rs. V R 20/22 stellt der BFH ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH und bittet diesen um Klärung, ob an der bisherigen Annahme der Nichtsteuerbarkeit von Innenumsätzen festgehalten werden kann. Es handelt sich um das bereits zweite Vorabentscheidungsersuchen in dieser Sache, bei dem es nunmehr um die Frage der Beurteilung von Innenumsätzen geht, die aufgrund der ersten Entscheidung des EuGH in diesem Verfahren – aus Sicht des BFH – zweifelhaft geworden ist. 

Nach den Anfang Dezember 2022 ergangenen Urteilen des EuGH vertraten viele die Ansicht, dass das deutsche Konzept der umsatzsteuerlichen Organschaft keine wesentliche Änderung erfahren würde. Einerseits bestätigte der EuGH die deutsche Regelung, wonach der Organträger als einziger Steuerpflichtiger der Organgruppe fungiert. Andererseits wurden die Ausführungen des EuGH zur Selbständigkeit von Organgesellschaften vielfach so interpretiert, dass diese allenfalls zu einer technischen Verschiebung ohne Auswirkung auf die Praxis führen würden. Diese Einschätzungen sind mit dem Beschluss vom 26.1.2023 obsolet. Der BFH will nun abschließende Klarheit darüber haben, ob das deutsche Konzept der nichtsteuerbaren Innenumsätze noch aufrechterhalten werden kann. Der 5. Senat stellt dabei fest, dass aus der bisherigen Rechtsprechung des EuGH sich keine eindeutige Antwort hierzu ergibt. Zudem verweist er auf die unterschiedlichen Beurteilungen dieser Rechtsfrage durch die Generalanwaltschaft beim EuGH in verschiedenen Verfahren. 

Nach geltendem Recht unterliegen Umsätze zwischen den Mitgliedern einer Organschaft nicht der Umsatzsteuer, weil die Organgesellschaft als "unselbständiger" Teil im Gesamtunternehmen des übergeordneten Organträgers angesehen wird. An dieser Betrachtung ergeben sich aus Sicht des 5. Senats nun ernsthafte Zweifel, da der EuGH die Organgesellschaft als selbständig ansieht und die Organschaft nach seiner Rechtsprechung nicht zur Gefahr von Steuerverlusten führen darf. Letzteres könnte aber aus Sicht des BFH zu bejahen sein, wenn der die Leistung von der Organgesellschaft beziehende Organträger, wie im konkreten Streitfall, nicht zum vollen Vorsteuerabzug berechtigt ist.

Auf Grundlage der Auslegung des Unionsrechts spricht für den 5. Senat des BFH somit einiges dafür, dass Innenumsätze – anders als bisher vom BFH angenommen – dem Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer unterliegen und damit steuerbar sind. Dabei ist es bedeutsam, dass der BFH betont, dass das bestehende nationale Recht insoweit richtlinienkonform auslegbar sei. D.h. der aktuell geltende § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG wäre dann so auszulegen, dass der Organträger alle Umsätze der Organgesellschaften zu erklären und zu versteuern hat, wobei sich dies auch auf die Innenumsätze erstrecken würde.

Auswirkungen auf die Praxis

Mit dem Vorabentscheidungsersuchen steht ein grundlegendes Merkmal des umsatzsteuerlichen Organschaftskonzepts, welches in der bestehenden Form nach deutschem Recht seit etwa 100 Jahren existiert, zur Disposition. Die jüngsten Entscheidungen des EuGH deuten darauf hin, dass der Gerichtshof die Zweifel des BFH über die geltende Nichtsteuerbarkeit von Innenumsätzen teilt. 

Unternehmensgruppen aus der Finanzindustrie, der Versicherungswirtschaft sowie aus den Bereichen Immobilien, Gesundheitswesen und dem Öffentlichen Sektor nutzen die umsatzsteuerliche Organschaft bislang, um definitive Belastungen aus nichtabzugsfähigen Vorsteuern in Folge ihrer steuerfreien Ausgangsumsätze zu vermeiden. Sollte der EuGH die bisherige Annahme der Nichtsteuerbarkeit der Innenumsätze nach deutschem Recht verwerfen, entfiele im Grunde der wirtschaftliche Gehalt des Konstrukts der umsatzsteuerlichen Organschaft. Für Unternehmensgruppen aus den zuvor genannten Bereichen würde dies zu deutlichen Kostensteigerungen im Hinblick auf Leistungsbeziehungen im Organkreis führen. Aber auch alle anderen umsatzsteuerlichen Organschaften müssten ihren bisherigen umsatzsteuerlichen Abrechnungs- und Meldeprozesse anpassen. Dies wäre mit umfänglichen Änderungen u.a. in den Bereichen Tax Compliance, Rechnungswesen und IT verbunden. 

Obschon abzuwarten bleibt, wie der EuGH die nun vom BFH adressierten Fragestellungen abschließend beantworten wird, sollten betroffene Unternehmensgruppen ihren umsatzsteuerlichen Organkreis bereits heute analysieren, um etwaige Auswirkungen der sich möglicherweise ergebenden rechtlichen Änderungen rechtzeitig zu antizipieren. 

 

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