Skip to content

Unionsrechtswidrigkeit von SE-Beteiligungsvereinbarungen bei unzureichender Gewerkschaftsbeteiligung

Geradezu inflationär häufig wurde in den vergangenen Wochen der Begriff des „Paukenschlag“-Urteils verwendet. Tatsächlich hielt der EuGH diese Woche einen weiteren Paukenschlag für viele Unternehmen bereit, die bereits die Rechtsform der Europäischen Gesellschaft (SE) gewählt haben oder derzeit einen Formwechsel in eine SE anstreben: Der EuGH entschied, dass Beteiligungsvereinbarungen bei unzureichender Gewerkschaftsbeteiligung unionsrechtswidrig seien. Doch nicht alle SEs sind hiervon betroffen. Zudem ergeben sich aus diesem Urteil etliche Folgefragen für die Zukunft.

Entscheidung und Hintergrund

Mit Urteil vom 18.10.2022 (C-677/20) entschied der EuGH über die Frage, ob es mit der Vereinbarungsschranke des Art. 4 Abs. 4 RL 2001/86/EG (SE-RL, dieser Absatz wurde wortgleich in § 21 Abs. 6 SEBG umgesetzt) vereinbar ist, dass die Beteiligungsvereinbarung einer durch Formwechsel geschaffenen SE dann einen getrennten Wahlgang für Gewerkschaftsvertreter im SE-Aufsichtsrat vorsehen muss, wenn dies im nationalen Gesetz (im Ausgangsverfahren also dem MitbestG) vorgeschrieben ist. Hierbei müsse die „Gleichbehandlung“ der Arbeitnehmer der SE, ihrer Tochtergesellschaften und Betriebe sowie der in ihnen vertretenen Gewerkschaften gewahrt sein.

Anlass der Vorlage durch das BAG war ein Rechtsstreit u.a. zwischen den Gewerkschaften IG Metall und ver.di sowie der SAP SE über deren Beteiligungsvereinbarung i. S. d. § 21 SEBG (vgl. den Vorlagebeschluss v. 18.08.2020 – 1 ABR 43/18). 

Die Beteiligungsvereinbarung war im Zuge des Formwechsels der SAP AG in die SAP SE im Jahr 2014 geschlossen worden und sah vor, dass ein verkleinerter – jedoch ebenfalls paritätisch besetzter – Aufsichtsrat gebildet werden könne, wobei die Gewerkschaften zwar Kandidaten für einen Teil der auf die deutschen Arbeitnehmer entfallenden Aufsichtsratssitze vorschlagen können, jedoch kein von der Wahl der übrigen Arbeitnehmervertreter getrennter Wahlgang vorgesehen ist.

Ebendies ist jedoch in im maßgeblichen nationalen Mitbestimmungsrecht (§ 7 Abs. 2 i.V.m. Abs. 5 MitbestG) vorgesehen, sodass sich die Frage stellte, ob gemäß Art. 4 Abs. 4 SE-RL / § 21 Abs. 6 SEBG eine entsprechende Regelung in einer Beteiligungsvereinbarung „in Bezug auf alle Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung zumindest das gleiche Ausmaß“ gewährleistet wird, das vor der Umwandlung bestand. Dem BAG genügten die Regelungen der Beteiligungsvereinbarung nicht. Aus rein nationaler Perspektive handele es sich, so das BAG, bei der im MitbestG zum Ausdruck kommenden „Sitzplatzgarantie“ der Gewerkschaften und dem getrennten Wahlgang um ein „prägendes Element“ (Rn. 28) und damit um eine auch im Rahmen des Formwechsels geschützte Komponente der Mitbestimmung. 

Auch der EuGH kam zum Ergebnis, dass die getrennten Wahlgänge im Rahmen des Formwechsels geschützt werden müssten und stützt sein Ergebnis auf Wortlaut, Systematik, Sinn und Zweck sowie die Entstehungsgeschichte der SE-RL. Dass die Entscheidung inhaltlich nicht überzeugt und der gesamte Auslegungskanon eigentlich gegen ein entsprechendes Verständnis der streitgegenständlichen Normen spricht, soll an dieser Stelle nicht vertieft werden (hierzu statt vieler Uffmann, ZFA 2021, 257). 

Auswirkungen

Welche Auswirkungen die (zumindest) zu erwartende Feststellung der Unwirksamkeit der Regelungen über den verkleinerten Aufsichtsrat hat, bleibt abzuwarten. Im Ausgangsverfahren könnte die Beteiligungsvereinbarung im Übrigen – auch in Bezug auf die Regelungen über die unternehmerische Mitbestimmung – weiterhin wirksam bleiben.

Für wen hat – neben der SAP SE – die Entscheidung welche Auswirkungen?

  • Keine Relevanz hat die Entscheidung zunächst für all jene SEs, die vor der Umwandlung keinem der deutschen Mitbestimmungsgesetze unterfielen – dies gilt selbst dann, wenn ein Formwechsel gewählt wurde. Denn in diesem Fall existierten zum Zeitpunkt der Umwandlung keine Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung auf dem Gebiet der unternehmerischen Mitbestimmung, die in der Beteiligungsvereinbarung als „prägendes Element“ Berücksichtigung hätten finden müssen.

  • Nur mittelbare Relevanz hat die Entscheidung für Unternehmen, die vor dem Formwechsel dem DrittelbG unterfielen, da dieses gerade keine zwingenden Wahlvorschläge von Gewerkschaftsvertretern vorsieht – und erst recht keine gesonderten Wahlgänge. Ob für diese Unternehmen die Entscheidung Handlungsbedarf nach sich zieht, hängt zunächst davon ab, ob man nach der EuGH-Entscheidung davon ausgeht, dass beispielsweise auch die Größe des Aufsichtsrats (nach § 4 Abs. 2 S. 1 DrittelbG) ein „prägendes Element“ der Arbeitnehmerbeteiligung darstellt. Regelungen in Beteiligungsvereinbarungen, nach denen der Aufsichtsrat nur noch aus drei Mitgliedern besteht (hierunter dann ein Arbeitnehmervertreter), können insoweit ebenfalls gegen § 21 Abs. 6 SEBG verstoßen. Zwar spricht vieles gegen eine entsprechende Lesart, es ist aber denkbar, dass die Gerichte für Arbeitssachen nun auf Grundlage der EuGH-Entscheidung zu ebendiesem Ergebnis gelangen könnten. Hier kann also zunächst eine gerichtliche Klärung abgewartet werden.
  • Für Unternehmen, die vor der SE-Gründung dem MitbestG unterfielen ist zwischen solchen zu unterscheiden, bei denen sich die unternehmerische Mitbestimmung nach einer Beteiligungsvereinbarung richtet und solchen, welche die Auffanglösung anwenden. Zudem ist zwischen Unternehmen zu unterscheiden, die den Weg des Formwechsels wählten (Art. 2 Abs. 4 SE-VO) und solchen, die durch eine Verschmelzung (Art. 2 Abs. 1 SE-VO) oder eine andere Gründungsform entstanden sind. 
  • Auf andere Gründungsformen als den Formwechsel findet – dessen Besonderheiten Rechnung tragend – § 21 Abs. 6 SEBG gerade keine Anwendung. Es bleibt bei der weiteren Autonomie der Parteien der Beteiligungsvereinbarung, auch abweichende Regelungen zu finden.

  • Auch Unternehmen, bei denen sich die unternehmerische Mitbestimmung nach der Auffanglösung richtet (§§ 34 ff. SEBG), sind von der SAP-Entscheidung des EuGH nicht betroffen. Kurioserweise ist hier nach §§ 36 Abs. 3 i.V.m. 6 Abs. 3 SEBG das Vorschlagsrecht der Gewerkschaften auf die auf Deutschland entfallenden Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat begrenzt. Jedoch erstreckt sich nach der SAP-Entscheidung im Falle des Abschlusses einer Beteiligungsvereinbarung das „Recht“, einen bestimmten Anteil der Kandidaten vorzuschlagen, nicht nur auf die deutschen Gewerkschaften, sondern auf alle in der SE, ihre Tochtergesellschaften und Betrieben in der gesamten EU/EWR vertretenen Gewerkschaften.

  • Bei Unternehmen, die hingegen (a) im Wege des Formwechsels gegründet wurden, (b) vor dem Formwechsel dem MitbestG unterfielen und (c) eine Beteiligungsvereinbarung geschlossen haben, ergeben sich zahlreiche bislang unbeantwortete Folgefragen:

Ist die Beteiligungsvereinbarung insgesamt nichtig oder bleiben zumindest die Regelungen über die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer erhalten? Wird ein neues Beteiligungsverfahren ausgelöst oder wird direkt auf die Auffanglösung zurückgegriffen? Ist im Falle eines neuen Beteiligungsverfahrens zwingend ein neues BVG zu wählen (§ 18 Abs. 1 S. 1 i.V. m. § 4 ff. SEBG analog) oder kann der vorhandene SE-Betriebsrat die Interessen der Arbeitnehmer vertreten (§ 18 Abs. 3 S. 2 SEBG)? Zählen zu den „Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung“ i. S. d. § 21 Abs. 6 SEBG auch u. a. auch die Größe des Aufsichtsrats und nicht nur der Anteil der Arbeitnehmervertreter? Sind Abweichungen vom Wahlverfahren des Aufsichtsratsvorsitzenden und dessen Stellvertreter (§ 27 MitbestG) – und wenn ja, in der Beteiligungsvereinbarung (?!) – vorzusehen? Ist die Bestellung eines Arbeitsdirektors (§ 33 MitbestG) nun auch in der SE zwingend? 

Bis zu einer gerichtlichen Klärung wird hier eine erhebliche Unsicherheit vorherrschen. Zwar dürfte die Bestellung der Organe und deren Rechtshandlungen ebenso wie der Bestand der SE selbst unberührt bleiben; spätestens im Zusammenhang mit den nächsten Wahlen von Arbeitnehmervertretern in den Aufsichtsrat der SE ist jedoch mit einer Vielzahl von Streitigkeiten zwischen der Unternehmensleitung und den im Konzern vertretenen Gewerkschaften, ggf. aber auch mit Verteilungskämpfen zwischen in- und ausländischen Gewerkschaften zu rechnen. Statt ein Wahlverfahren auf Grundlage einer – ggf. bereits gerichtlich angegriffenen – Beteiligungsvereinbarung einzuleiten, kann es hier sinnvoll sein, mit dem SE-Betriebsrat eine Anpassung der Beteiligungsvereinbarung herbeizuführen, wobei jedoch aufgrund oben beschriebener offener Fragen ebenfalls rechtliche Risiken aufwarten.

  • Ebenfalls von Relevanz ist die Entscheidung für den grenzüberschreitenden Formwechsel und die grenzüberschreitende Spaltung. Aufgrund des Verweises der sich derzeit noch in der Umsetzung befindlichen Art. 96l Abs. 3 lit. b), 160l Abs. 3 lit. b) der RL 2019/2121/EU ist bei Auslegung der nationalen Umsetzungsnormen (nach dem Stand des Regierungsentwurfs v. 6. Juli 2022 § 24 Abs. 2 MgFSG-E die Rechtsprechung zu Art. 4 Abs. 4 SE-RL mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenfalls zu berücksichtigen.
  • Insoweit müssen jedenfalls die Vorgaben zur Wahl der Gewerkschaftsvertreter im Aufsichtsrat in grenzüberschreitenden Formwechsel- und Spaltungskonstellationen Eingang in die Beteiligungsvereinbarungen finden, wenn zuvor das deutsche MitbestG Anwendung fand.

  • Abweichend vom SEBG wählt der MgFSG-E auch für die Auffanglösung die Formulierung, dass „alle Komponenten der Mitbestimmung der Arbeitnehmer“ nach dem grenzüberschreitenden Vorhaben in der hervorgehenden Gesellschaft erhalten werden. Da diese Regelung jedoch nur Anwendung findet, wenn die Gesellschaft nach dem grenzüberschreitenden Formwechsel/der Spaltung ihren Sitz in Deutschland haben soll, ist die praktische Relevanz dieser Norm eher gering.

  • Der Regierungsentwurf nennt hier als Beispiel den Fall, dass eine österreichische GmbH mit 300 Arbeitnehmern in eine deutsche GmbH umgewandelt wird, bei der sodann „mindestens eine Drittelbeteiligung im Aufsichtsrat“ erfolgen muss. Unter Berücksichtigung der SAP-Entscheidung wäre nun zu prüfen, welche „Komponenten“ die unternehmerische Mitbestimmung in Österreich bereithält. Diese Komponenten müssten dann auch in der Beteiligungsvereinbarung für die künftig im Zielland Deutschland ansässige Gesellschaft Niederschlag finden – und zwar dann unabhängig davon, ob die sich die unternehmerische Mitbestimmung nach einer Beteiligungsvereinbarung oder der Auffanglösung richtet. Ein erhebliches Maß an Rechtsunsicherheit wird die Folge sein, da nun zunächst für jedes nationale Mitbestimmungsrecht festzustellen ist, was dessen prägende Verfahrenselemente ausmachen soll!

Fazit

Die SAP-Entscheidung des EuGH kann erhebliche Auswirkungen auf die Ausgestaltung der unternehmerischen Mitbestimmung in bereits gegründeten SEs, aber auch auf laufende Beteiligungsverfahren haben. Zunächst ist jedoch sorgsam zu prüfen, ob die Entscheidung für das Unternehmen tatsächlich „einschlägig“ ist. Ist dies der Fall ist zunächst eine Bestandsaufnahme dahingehend zu tätigen, welche Regelungen in der Beteiligungsvereinbarung überhaupt gegen § 21 Abs. 6 SEBG verstoßen könnten. Erst auf dieser Grundlage ist es im Anschluss möglich, eine fundierte Risikoeinschätzung und darauf basierend einen maßgeschneiderten Maßnahmenkatalog zu entwickeln.

Weitere relevante Expertise