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Tariffähigkeit: Keine Besonderheiten in der Pflegebranche

Nach den aufsehenerregenden Entscheidungen des BAG und des BVerfG zur fehlenden Tariffähigkeit der DHV, hatte das BAG nun erneut über die Tariffähigkeit einer Gewerkschaft – diesmal ver.di – zu entscheiden (BAG v. 13. September 2022 – 1 ABR 24/21). Dabei hat das BAG seine Rechtsprechung zur Tariffähigkeit und dem diesbezüglichen Prozessrecht weiter konturiert.  

Verfahrensgang

Der Arbeitgeberverband Pflege e.V. (AGVP) beantragte in einem Verfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG i.V.m. § 97 ArbGG festzustellen, dass ver.di in der Pflegebranche außerhalb von Krankenhäusern nicht tariffähig sei. Hilfsweise machte der AGVP geltend, dass ver.di insgesamt tarifunfähig sei. Das LAG wies diese Anträge zurück (LAG Berlin-Brandenburg v. 24. Juni 2021 – 21 BVL 5001/21). Das BAG bestätigte nun diese Entscheidung; ver.di ist hiernach – insbesondere in der Pflegebranche – tariffähig (BAG v. 13. September 2022 – 1 ABR 24/21).

Tariffähigkeit

Der Begriff der Tariffähigkeit ist gesetzlich nicht definiert, sondern wird in §§ 2a Abs. Nr. 4, 97 Abs. 1, Abs. 5 S. 1 ArbGG, § 2 Abs. 1 TVG vorausgesetzt. Nach der Rechtsprechung des BAG handelt es sich bei der Tariffähigkeit um die rechtliche Fähigkeit, mit dem sozialen Gegenspieler durch Tarifverträge Arbeitsbedingungen mit normativer Wirkung zu regeln (BAG v. 28. März 2006 – 1 ABR 58/04). Dazu müssen bestimmte Mindestvoraussetzungen erfüllt sein.

Durchsetzungskraft als maßgebliches Kriterium

Eine Arbeitnehmervereinigung muss sich als satzungsgemäße Aufgabe die Wahrnehmung der Interessen ihrer Mitglieder in deren Arbeitnehmereigenschaft gesetzt haben und willens sein, Tarifverträge zu schließen. Sie muss frei gebildet, gegnerfrei, unabhängig und überbetrieblich organisiert sein und das geltende Tarifrecht als verbindlich anerkennen (BAG v. 14. Dezember 2004 – 1 ABR 51/03). Zudem muss eine Gewerkschaft nach ihrem organisatorischen Aufbau zur Erfüllung der ihr gestellten Aufgaben in der Lage sein (BAG v. 14. Dezember 2004 – 1 ABR 51/03.).

Maßgebliche Bedeutung kommt dem Kriterium der Durchsetzungskraft zu: Erforderlich ist eine Durchsetzungskraft im Sinne einer Mächtigkeit gegenüber dem sozialen Gegenspieler, die sicherstellt, dass dieser Verhandlungsangebote nicht übergehen kann. Es bedarf also eines Mindestmaßes an Verhandlungsgleichgewicht (BVerfG v. 20. Oktober 1981 – 1 BvR 404/78). Erforderlich ist ein gewisses Druckpotential (BAG v. 22. Juni 2021 – 1 ABR 28/20).

Es genügt dabei gerade nicht, dass die Vereinigung in irgendeinem Teilbereich der selbstgewählten Zuständigkeit durchsetzungsfähig ist. Erforderlich, aber auch ausreichend für eine Tariffähigkeit ist vielmehr, wenn die Vereinigung in einem zumindest nicht unbedeutenden Teil des Zuständigkeitsbereichs über Durchsetzungsmacht und organisatorische Leistungsfähigkeit verfügt (BAG v. 22. Juni 2021, a.a.O; BAG v. 13. September 2022, a.a.O.).

Grundsatz: Keine partielle Tariffähigkeit

Eine partielle Tariffähigkeit gibt es nach der ständigen Rechtsprechung des BAG grundsätzlich nicht. Tariffähigkeit kommt einer Arbeitnehmervereinigung für den beanspruchten Zuständigkeitsbereich entweder ganz oder gar nicht zu. Die Tariffähigkeit ist also einheitlich und unteilbar (BAG v. 28. März 2006 a.a.O.). Dieses Prinzip sichert die Funktionsfähigkeit der durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleisteten Tarifautonomie. Wäre die Tariffähigkeit teilbar, würde bei jedem Tarifvertrag die Frage aufgeworfen werden, ob die ihn abschließende Vereinigung im jeweiligen räumlichen, fachlichen und personellen Bereich ausreichend durchsetzungsstark ist. Die sich hieraus ergebenden Rechtsunsicherheit würde die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie ernsthaft gefährden (BAG v. 28. März 2006, a.a.O.; BAG v. 22. Juni 2021, a.a.O.).

Besonderheit in der Pflegebranche?

Der AGVP argumentierte, dass die Regelungen des Arbeitnehmerentsendegesetzes (AEntG) ausnahmsweise die Anerkennung einer partiellen Tariffähigkeit im Bereich der Pflegebranche gebieten würden. Dieser Ansicht erteilte das BAG eine klare Absage: Das Prinzip der Einheitlichkeit und Unteilbarkeit der Tariffähigkeit gilt auch in der Pflegebranche.

Das BAG argumentiert insoweit, dass die §§ 10-13 AEntG ausschließlich dazu dienen, in der Pflegebranche Mindestarbeitsbedingungen durch Rechtsverordnung zu schaffen und durchzusetzen und keinerlei Anhaltspunkte für eine Regelung zur Tariffähigkeit enthalten. Ganz im Gegenteil: Das BAG rekurriert insbesondere darauf, dass § 12 AEntG sich mit der Nennung von „Gewerkschaften“ eines einheitlichen und gesetzesübergreifenden Gewerkschaftsbegriffs bedient, der das Erfordernis der Tariffähigkeit dieser Vereinigung samt der Rechtsprechung zu den diesbezüglichen Voraussetzungen umfasst (BAG v. 13. September 2022, a.a.O.). Von Bedeutung ist auch § 12 Abs. 6 AEntG: Danach kommt für die Auswahl zwischen den Vorschlägen konkurrierender Gewerkschaften das Kriterium ihrer Repräsentativität zur Anwendung. Dieses greift nur bei tariffähigen Organisationen.

Auch § 7a AEntG lässt sich nichts Gegenteiliges entnehmen: Die Norm betrifft die Erstreckung von Branchentarifverträgen. Soweit auch hier nach §§ 7a Abs. 2, 7 Abs. 2 AEntG auf die Repräsentativität – hier allerdings der Tarifverträge – abgestellt wird, bestätigt dies die Auffassung des BAG: Die Repräsentativität eines Tarifvertrages setzt seinerseits den Abschluss durch eine Gewerkschaft und damit deren Tariffähigkeit voraus, § 2 Abs. 1 TVG.

Das BAG berücksichtigt zudem § 72 Abs. 3a, 3b SGB XI. Die Norm regelt die Zulassung zur Pflege durch Versorgungsvertrag. Versorgungsverträge dürfen seit dem 1. September 2022 nur mit Pflegeeinrichtungen abgeschlossen werden, wenn sie an Tarifverträge gebunden sind oder sie – auch ohne entsprechende Bindung – eine den tariflichen Vorgaben entsprechende Entlohnung gewähren. Das BAG stellt insoweit klar, dass hieraus nicht gefolgert werden kann, der Grundsatz der Einheitlichkeit und Unteilbarkeit der Tariffähigkeit gelte nicht für die Pflegebranche.

Weiter hat der AGVP argumentiert, dass den Arbeitgebern der Pflegebranche von Verfassungswegen ein konkret in dieser Branche durchsetzungsstarker Tarifpartner zur Verfügung stehen müsste. Auch dieser Auffassung erteilt das BAG eine Absage. Die Erfordernisse an die Tariffähigkeit einer Vereinigung sollen nicht den sozialen Gegenspieler schützen, sondern die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie als solche.

Keine Entscheidung des BAG über die Tariffähigkeit von ver.di insgesamt

Erstinstanzlich hatte das LAG Berlin-Brandenburg (v. 24. Juni 2021) den hilfsweisen Antrag auf Feststellung der Tarifunfähigkeit insgesamt als unbegründet abgewiesen.

Das BAG äußerte sich insofern nicht zur Sache, da die hiergegen gerichtete Rechtsbeschwerde mangels Angabe dazu, welche rechtlichen Bestimmungen durch den erstinstanzlichen Beschluss verletzt sein sollen, unzulässig war.

Prozessuales zu § 97 ArbGG

§ 97 ArbGG enthält Sonderregelungen für Beschlussverfahren zur Entscheidung über die Tariffähigkeit oder die Tarifzuständigkeit einer Vereinigung. Die Bestimmung dient der Sicherung der Tarifautonomie und als Korrektiv dafür, dass grundsätzlich jede Arbeitnehmervereinigung ohne Zulassung sich am Tarifgeschehen beteiligen kann (BAG v. 14. Dezember 2010 – 1 ABR 19/10). Erstinstanzlich zuständig sind die Landesarbeitsgerichte.

Das BAG hat nun auch das Prozessrecht nach § 97 ArbGG weiter konturiert. In prozessualer Hinsicht war bislang insbesondere nicht geklärt, ob ein Antrag auf Feststellung einer partiellen Tarifunfähigkeit überhaupt zulässig ist. In § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG ist von der „Entscheidung über die Tariffähigkeit“ die Rede. Ebenso formuliert § 97 ArbGG („Entscheidung über die Tariffähigkeit“).

Das LAG Berlin-Brandenburg (v. 24. Juni 2021, a.a.O.) hatte einen Antrag auf Feststellung einer partiellen Tarifunfähigkeit für zulässig gehalten und insofern mit der Zielsetzung der §§ 2a Abs. 1 Nr. 4, 97 ArbGG argumentiert. Ziel sei es, hinsichtlich der Eigenschaft der Tariffähigkeit einheitlich ein objektiviertes Verfahren mit erga-omnes-Wirkung zu schaffen. Dies diene auch dem durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Interesse der Vereinigung, deren Tariffähigkeit angezweifelt wird. Die Wirkung ihrer Tarifverträge sei ebenso gefährdet, wenn der Vereinigung nur ein Teil der Tariffähigkeit abgesprochen werde. Der Begriff „Entscheidung über die Tariffähigkeit“ sei deshalb als „Entscheidung über Fragen der Tariffähigkeit“ zu verstehen. Ob eine teilweise Tarifunfähigkeit existiere, sei eine materiell-rechtliche Frage und damit der Begründetheit zuzuordnen.

Davon abweichend ordnet das BAG (v. 13. September 2022, a.a.O.) dies als Frage der Zulässigkeit ein. Nach Auffassung des BAG ist ein Antrag gerichtet auf Feststellung der partiellen Tarifunfähigkeit damit schon unzulässig. Das gebiete der Ordnungszweck und die erga-omnes-Wirkung. Durch eine lediglich auf die partielle Tariffähigkeit einer Vereinigung gerichtete Antragstellung könne die mit diesem Verfahren beabsichtigte Klärung einer für die Teilnahme am Tarifgeschehen unerlässlichen Eigenschaft nicht erreicht werden.

Einordnung der Entscheidung des BAG

Die Entscheidung des BAG verdient jedenfalls insofern Zustimmung, als dass die Anforderungen an eine Tariffähigkeit hiernach branchenübergreifend einheitlich sind. Es ist überzeugend, dass das BAG eine Ausnahme hinsichtlich einer partiellen Tariffähigkeit für die Pflegebranche ablehnt. Es ist schon im Ansatz nicht nachvollziehbar, warum Branchenspezifika bei der Ablehnung oder Anerkennung einer partiellen Tariffähigkeit überhaupt eine Rolle spielen sollten. In allen Branchen gilt ohne Differenzierung: Wäre die Tariffähigkeit teilbar, würde bei jedem Tarifvertrag die Frage aufgeworfen werden, ob die ihn abschließende Vereinigung im jeweiligen räumlichen, fachlichen und personellen Bereich ausreichend durchsetzungsstark ist. Damit würde eine erhebliche Rechtsunsicherheit begründet werden, die mit der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie nicht in Einklang zu bringen wäre.

Soweit das BAG einen Antrag auf Feststellung einer partiellen Tarifunfähigkeit bereits für unzulässig hält, ist diese Auffassung wohl nicht zwingend. Die aus dem Ordnungszweck folgende, beabsichtigte Klärung einer Tariffähigkeit mit erga-omnes-Wirkung kann auch dann erreicht werden, wenn Anträge auf Feststellung einer partiellen Tarifunfähigkeit stets als unbegründet abgewiesen werden. In der Praxis dürfte die prozessuale Verortung der Frage nach einer partiellen Tarifunfähigkeit jedoch kaum von Relevanz sein.

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