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Niedrigere Bezahlung für Leiharbeitnehmer durch Tarifvertrag wirksam
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Letzten Endes hatte der 5. Senat des BAG also darüber zu entscheiden, ob und unter welchen Voraussetzungen es rechtlich zulässig ist, dass Leiharbeitnehmer qua Tarifvertrag niedriger vergütet werden als vergleichbare Stammarbeitnehmer. Diese Frage ist deshalb von besonderer Brisanz, weil es in der Leiharbeitsbranche gängige Praxis ist, dass Tarifverträge zur Anwendung kommen, aufgrund derer Leiharbeitnehmer eine niedrigere Vergütung erhalten als vergleichbare Stammarbeitnehmer. Hierbei wird die Leiharbeitsbranche ganz wesentlich durch die von den verschiedenen DGB-Gewerkschaften als Tarifgemeinschaft mit den Arbeitgeberverbänden BAP (Bundesarbeitgeberverband der Personaldienstleister e.V.) sowie iGZ (Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen e.V.) abgeschlossenen Tarifverträge geprägt.
Gesetzliche Grundlagen des § 8 AÜG und des Art. 5 Abs. 3 Leiharbeits-RL
§ 8 Abs. 1 S. 1 AÜG sieht im Grundsatz zwar vor, dass ein Verleiher verpflichtet ist, Leiharbeitnehmern für die Zeit der Überlassung an einen Entleiher, die im Betrieb des Entleihers für vergleichbare Arbeitnehmer des Entleihers geltenden wesentlichen Arbeitsbedingungen einschließlich des Arbeitsentgelts zu gewähren (sog. Gleichstellungsgrundsatz).
Gemäß § 8 Abs. 2 AÜG kann ein Tarifvertrag unter den dort näher beschriebenen Voraussetzungen aber vom sog. Gleichstellungsgrundsatz abweichen. Dies ist für nicht tarifgebundene Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Geltungsbereich eines solchen Tarifvertrages gemäß § 8 Abs. 2 S. 3 AÜG auch durch dessen arbeitsvertragliche Inbezugnahme möglich. Eine Abweichung vom Gleichstellungsgrundsatz durch Tarifvertrag ist in der Leiharbeitsbranche der Regelfall.
§ 8 Abs. 4 AÜG beschränkt die Abweichung vom Gleichstellungsgrundsatz bzgl. des Arbeitsentgelts auf die ersten neun Monate der Überlassung an einen Entleiher. Eine längere Abweichung vom sog. Equal Pay-Grundsatz ist nur unter den Voraussetzungen des § 8 Abs. 4 S. 2 Nr. 1 und Nr. 2 AÜG zulässig: Im Wesentlichen muss der Tarifvertrag in diesem Fall ein eigenständiges Entgeltkonzept enthalten (sog. Branchenzuschläge), wobei das Entgelt des Leiharbeitnehmers – nach einer Einarbeitungszeit von sechs Wochen – stufenweise bis spätestens nach 15 Monaten einer Überlassung das Entgelt erreichen muss, das in dem Tarifvertrag als gleichwertig mit dem tarifvertraglichen Arbeitsentgelt vergleichbarer Arbeitnehmer in der Einsatzbranche festgelegt ist.
Auf unionsrechtlicher Ebene macht Art. 5 Abs. 3 Leiharbeits-RL für Abweichungen vom Gleichstellungsgrundsatz durch Tarifverträge wörtlich folgende Vorgaben:
„(3) Die Mitgliedstaaten können nach Anhörung der Sozialpartner diesen die Möglichkeit einräumen, auf der geeigneten Ebene und nach Maßgabe der von den Mitgliedstaaten festgelegten Bedingungen Tarifverträge aufrechtzuerhalten oder zu schließen, die unter Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern Regelungen in Bezug auf die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Leiharbeitnehmern, welche von den in Absatz 1 aufgeführten Regelungen abweichen können [Hinweis: Art. 5 Abs. 1 Leiharbeits-RL regelt die Gleichbehandlung mit den vergleichbaren Stammarbeitnehmern], enthalten können.“
[Hervorhebungen und Klammerzusatz hinzugefügt]
Was genau unter dem Begriff „unter Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern“ i.S.d. Art. 5 Abs. 3 Leiharbeits-RL zu verstehen ist, ist in der Leiharbeits-RL nicht definiert.
Zugrundeliegender Sachverhalt der BAG-Entscheidung vom 31. Mai 2023 (a.a.O.)
Dem BAG-Urteil vom 31. Mai 2023 (a.a.O.) lag im Wesentlichen folgender Sachverhalt zugrunde:
Die Klägerin war aufgrund eines nach § 14 Abs. 2 TzBfG befristeten Arbeitsverhältnisses bei der Beklagten, die gewerblich Arbeitnehmerüberlassung betreibt, als Leiharbeitnehmerin beschäftigt. Sie war im Streitzeitraum Januar bis April 2017 hauptsächlich einem Unternehmen des Einzelhandels als Kommissioniererin zu einem Stundensatz von zuletzt EUR 9.23 brutto überlassen. Sie behauptete, vergleichbare Stammarbeitnehmer des Entleihers erhielten einen Stundenlohn von EUR 13,64 brutto. Mit ihrer Klage unter Berufung auf den Gleichstellungsgrundsatz des § 8 Abs. 1 AÜG bzw. § 10 Abs. 4 Satz 1 AÜG a.F. für den Zeitraum Januar bis April 2017 machte sie die Differenzvergütung in Höhe von EUR 1.296,72 Euro brutto geltend. Insbesondere berief sie sich darauf, das auf ihr Arbeitsverhältnis anwendbare Tarifwerk von ver.di und iGZ wahre die „Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern“ gemäß Art. 5 Abs. 3 der Leiharbeits-RL nicht.
Das beklagte Arbeitgeberunternehmen hat Klageabweisung beantragt und geltend gemacht, das Tarifwerk von iGZ und ver.di verstoße nicht gegen Unionsrecht. Außerdem hat die Beklagte die Höhe der von der Klägerin behaupteten Vergütung vergleichbarer Stammarbeitnehmer des Entleihers mit Nichtwissen bestritten.
Vorabentscheidungsverfahren des EuGHs v. 15. Dezember 2022 (-C-311/21 – [TimePartner Personalmanagement]
Die Vorinstanzen hatten die Klage der Leiharbeitnehmerin abgewiesen. Um unionsrechtliche Fragen zu klären, setzte der 5. Senat des BAG zunächst mit Beschluss vom 16. Dezember 2020 (5 AZR 143/19 (A)) das Revisionsverfahren aus und ersuchte den EuGH gemäß Art. 267 AEUV um Vorabentscheidung von Rechtsfragen im Zusammenhang mit der von Art. 5 Abs. 3 Leiharbeits-RL verlangten, aber nicht näher definierten „Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern“.
Die Antworten aus Luxemburg in dem Vorabentscheidungsverfahren kamen mit Urteil vom 15. Dezember 2022 (-C-311/21 – [TimePartner Personalmanagement]), dessen ganz wesentlicher Inhalt sich wie folgt zusammenfassen lässt:
- Lassen die Sozialpartner durch einen Tarifvertrag Ungleichbehandlungen in Bezug auf wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen zum Nachteil von Leiharbeitnehmern zu, so muss dieser Tarifvertrag, um den Gesamtschutz der betroffenen Leiharbeitnehmer zu achten, ihnen im Gegenzug Vorteile in Bezug auf wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen gewähren, die geeignet sind, die Ungleichbehandlung auszugleichen. Der Begriff der „wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen“ ist hierbei in Art. 3 Abs. 1 lit. f) der Leiharbeits-RL definiert und bezieht sich auf die Dauer der Arbeitszeit, Überstunden, Pausen, Ruhezeiten, Nachtarbeit, Urlaub, arbeitsfreie Tage und Arbeitsentgelt.
- Die Frage, ob die Pflicht zur Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern erfüllt ist, ist anhand einer konkreten Einzelfallprüfung für den jeweiligen Leiharbeitnehmer mit Bezug auf den konkreten Entleiher durchzuführen.
- Die Pflicht zur Achtung des Gesamtschutzes verlangt es nicht, dass der betreffende Leiharbeitnehmer durch einen unbefristeten Arbeitsvertrag an das Leiharbeitsunternehmen gebunden ist.
Pressemitteilung zu dem BAG-Urteil v. 31. Mai 2023 (a.a.O.)
Unter Berücksichtigung der Vorgaben des EuGHs in dem Vorabentscheidungsverfahren wies der 5. Senat die Revision der Leiharbeitnehmerin als unbegründet zurück. Der bisher ausschließlich vorliegenden Pressemitteilung des BAG vom 31. Mai 2023 lässt sich entnehmen, dass der 5. Senat hierbei Folgendes für wesentlich hielt:
Das Tarifwerk von iGZ und ver.di genügt jedenfalls in Zusammenspiel mit den zwingenden gesetzlichen Schutzvorschriften für Leiharbeitnehmer den Anforderungen des Art. 5 Abs. 3 der Leiharbeits-RL. Sofern und soweit der Sachvortrag der Klägerin zu ihrer ggü. vergleichbaren Stammarbeitnehmern des Entleihers niedrigeren Vergütung zutreffe, dann habe die Klägerin zwar einen Nachteil erlitten. Eine derartige Schlechterstellung erlaube Art. 5 Abs. 3 Leiharbeits-RL aber ausdrücklich, sofern hierbei die „Achtung des Gesamtschutzes der Leiharbeitnehmer“ gewahrt werde.
Das von iGZ und ver.di geschlossene Tarifwerk beinhalte gemeinsam mit den gesetzlichen Regelungen ausreichende Ausgleichsvorteile, die eine „Neutralisierung der Ungleichbehandlung“ ermöglichten:
- An erster Stelle nennt der 5. Senat hier, dass das in dem dortigen Fall relevante Tarifwerk die Fortzahlung die Vergütung von Leiharbeitnehmern in verleihfreien Zeiten gewährleiste. Derartige verleihfreie Zeiten seien nach deutschem Recht auch bei befristeten Arbeitsverhältnissen stets möglich, z.B. wenn der Leiharbeitnehmer nicht ausschließlich für einen bestimmten Einsatz eingestellt worden sei.
- Zudem habe der deutsche Gesetzgeber durch § 11 Abs. 4 S. 2 AÜG zwingend sichergestellt, dass der Verleiher das Wirtschafts- und Betriebsrisiko für verleihfreie Zeiten uneingeschränkt trage, weil der Anspruch auf Annahmeverzugslohn gemäß § 615 S. 1 BGB in Leiharbeitsverhältnissen nicht abbedungen werden könne.
- Des Weiteren habe der Gesetzgeber dafür gesorgt, dass die tarifliche Vergütung von Leiharbeitnehmern staatlich festgesetzte Lohnuntergrenzen und den gesetzlichen Mindestlohn nicht unterschreiten dürfe.
- Ebenso hält es der 5. Senat des BAG laut der Pressemitteilung für relevant, dass die Abweichung vom Grundsatz des gleichen Arbeitsentgelts gemäß § 8 Abs. 4 S. 1 AÜG zeitlich auf die ersten 9 Monate der Überlassung an einen Entleiher begrenzt ist und eine längere tarifvertragliche Abweichung vom Grundsatz des in § 8 Abs. 1 AÜG normierten „Equal Pay“-Grundsatzes ausschließlich dann zulässig ist, wenn die strengeren Voraussetzungen des § 8 Abs. 2 S. 2 AÜG gewahrt sind.
Fazit
Das Urteil vom 31. Mai 2023 (a.a.O.) ist für die Leiharbeitsbranche erfreulich. Auch wenn die Entscheidungsgründe noch nicht vorliegen, so zeigt der Inhalt der Pressemitteilung doch bereits, dass die tariflich niedrigere Bezahlung von Leiharbeitnehmern, im streitgegenständlichen Sachverhalt z.B. durch das Tarifwerk iGZ/ver.di, rechtlich grundsätzlich zulässig ist und nicht gegen Unionsrecht verstößt.
Die Voraussetzungen, die in der Pressemitteilung dafür genannt werden, dass eine „Achtung des Gesamtschutzes der Leiharbeitnehmer“ gemäß Art. 5 Abs. 3 Leiharbeits-RL gegeben ist, scheint der 5. Senat bereits in weiten Teilen durch zwingende gesetzliche Schutzvorschriften zugunsten von Leiharbeitnehmern gewahrt zu sehen sowie dadurch, dass das in dem betreffenden Sachverhalt anwendbare Tarifwerk iGZ/ver.di explizit die Vergütung auch in verleihfreien Zeiten gewährleistet. Entsprechendes stellt auch das weitere „große“ Tarifwerk der Leiharbeitsbranche sicher, das zwischen BAP und verschiedenen DGB-Gewerkschaften als Tarifgemeinschaft geschlossen wurde.
Die Pressemitteilung klingt demnach so, als ob die Leiharbeitsbranche insgesamt aufatmen dürfe und das Thema „Abweichung vom Equal Pay-Grundsatz durch Tarifvertrag“ damit für sämtliche denkbaren Fälle geklärt sei. Insbesondere die vom 5. Senat zur „Neutralisierung der Ungleichbehandlung“ angeführten zwingenden gesetzlichen Schutzvorschriften zugunsten der Leiharbeitnehmer gelten schließlich für jedes (durch Tarifvertrag geregelte) Leiharbeitsverhältnis. Jedenfalls die Tarifwerke von iGZ und BAP, die in der Leiharbeitsbranche nahezu flächendeckend zur Anwendung kommen, enthalten die des Weiteren vom 5. Senat für seine Sichtweise ins Feld geführte Gewährleistung der Fortzahlung der Vergütung in verleihfreien Zeiten, indem sie einen einheitlichen Vergütungsanspruch für Überlassungs- und Nichtüberlassungszeiten vorsehen.
Abzuwarten bleibt allerdings noch, ob die Entscheidungsgründe diesen klaren Eindruck, der sich nach Lektüre der Pressemitteilung des BAG ergibt, auch bzgl. einzelner Details bestätigen: Immerhin hat der EuGH in dem Vorabentscheidungsverfahren vom 15. Dezember 2022 deutlich gemacht, dass die Frage, ob die Pflicht zur „Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern“ erfüllt ist, anhand einer konkreten Einzelfallprüfung für den jeweiligen Leiharbeitnehmer mit Bezug auf den konkreten Entleiher durchzuführen ist. Interessant wird also noch sein, ob sich dieses vom EuGH aufgestellte Erfordernis irgendwo in den Entscheidungsgründen des 5. Senats wiederfindet. Falls dies der Fall sein sollte, dann würde es sich aber sicherlich um höchst vereinzelte Fälle handeln, bei denen vergleichbare Stammarbeitnehmer des Einsatzbetriebs zu für sie extrem günstigen Konditionen tätig sind, so dass eine konkrete Einzelfallprüfung eine tarifliche Schlechterstellung durch die „großen“ Tarifwerke nicht zulässt. Wahrscheinlicher ist es aber, dass der 5. Senat die Ausgleichsvorteile der „großen“ Tarifwerke im Zusammenspiel mit den zwingenden gesetzlichen Schutzvorschriften stets als ausreichende mögliche Kompensation für die niedrigere Vergütung betrachtet.
Fußnoten
1 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird durchgehend das generische Maskulinum verwendet; es werden jedoch ausdrücklich alle Geschlechteridentitäten hiervon erfasst.