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EuGH: Abweichung vom Gleichstellungsgrundsatz

Der Gleichstellungsgrundsatz zählt bereits seit mehr als 20 Jahren zu den wesentlichen Grundlagen des deutschen Arbeitnehmerüberlassungsrechts. Stark vereinfacht besagt er, dass Leiharbeitnehmer gegenüber den (Stamm-)Beschäftigten des Betriebs, in dem sie eingesetzt werden, nicht schlechter gestellt werden dürfen. In seinen Einzelheiten hat der Gleichstellungsgrundsatz in der Vergangenheit immer wieder Änderungen erfahren. Seit 2008 ist er auf europäischer Ebene in der Leiharbeitsrichtlinie (RL 2008/104/EG) verankert. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat nunmehr mit Urteil vom 15. Dezember 2022 (C-311/21, „Time Partner Personalmanagement GmbH“) eine äußert relevante Frage im Zusammenhang mit der Anwendung des Gleichstellungsgrundsatzes geklärt, die für die deutsche Leiharbeitspraxis weitreichende Folgen haben dürfte. Konkret geht es um die Frage, unter welchen Voraussetzungen vom Gleichstellungsgrundsatz durch Tarifverträge abgewichen werden kann.

Gesetzliche Ausgangslage

§ 8 Abs. 2 Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) erlaubt es, durch Tarifvertrag vom Gleichstellungsgrundsatz abzuweichen. Im Geltungsbereich eines solchen Tarifvertrags können Leiharbeitnehmer daher auch zu ungünstigeren Bedingungen als die (Stamm-)Beschäftigten des Entleiherbetriebs beschäftigt werden. Insbesondere kann – jedenfalls zeitlich begrenzt – auch eine geringe Vergütung gezahlt werden.

Diese Abweichungsbefugnis ist vor dem Hintergrund von Art. 5 Abs. 3 der Leiharbeitsrichtlinie zu sehen. Danach können die Mitgliedsstaaten den Sozialpartnern die Möglichkeit einräumen, Tarifverträge zu schließen, die unter Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern vom Gleichstellungsgrundsatz abweichen. 

Hintergrund der Entscheidung

Im Zentrum der nunmehrigen Entscheidung steht der Begriff des „Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern“. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hatte dem EuGH hierzu mehrere Fragen vorgelegt.

Ausgangspunkt der jetzigen EuGH-Entscheidung war eine Klage einer Leiharbeitnehmerin, die bei einem Leiharbeitsunternehmen befristet für vier Monate beschäftigt war und während dieser Zeit in einem Einzelhandelsunternehmen eingesetzt wurde. Dort lag ihr Bruttostundenlohn, der ihr auf Grundlage eines für die Zeitarbeitsbranche geschlossenen Tarifvertrags gezahlt wurde, ca. EUR 4,00 unter dem vergleichbarer Stammbeschäftigter. Mit ihrer Klage begehrte sie Zahlung der Differenzvergütung.

EuGH: Abweichung nur bei Ausgleich durch Vorteile an anderer Stelle

Der EuGH hat entschieden, dass der „Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern“ es erfordere, dass ungünstige Abweichungen, die ein Leiharbeitnehmer an einer Stelle im Vergleich zu den Stammbeschäftigten hinnehmen muss, durch Vorteile an anderer Stelle auszugleichen sind. Während es in einzelnen Arbeitsbedingungen durchaus Unterschiede zwischen Leiharbeitnehmern und Stammbeschäftigten geben kann, darf es nach einem Gesamtvergleich der Arbeitsbedingungen wertungsmäßig nicht bei einer Abweichung zulasten der Leiharbeitnehmer bleiben oder, um es in den Worten des EuGH zu sagen, etwaige Ungleichbehandlungen müssen neutralisiert werden. 

Der Gesamtvergleich erstreckt sich auf alle wesentlichen Arbeitsbedingungen im Sinne der Leiharbeitsrichtlinie, also Dauer der Arbeitszeit, Überstunden, Pausen, Ruhezeiten, Nacharbeit, Urlaub, arbeitsfreie Tage und das Arbeitsentgelt. Das bedeutet einerseits, dass „nur“ Abweichungen dieser Arbeitsbedingungen ausgeglichen werden müssen. Andererseits ist es aber auch erforderlich, dass der Ausgleich gerade in Vorteilen bei diesen Arbeitsbedingungen liegt. Ein geringeres Entgelt, bei dem im Übrigen nach den Schlussanträgen des Generalanwalts „strengste Anforderungen an die Rechtfertigung zu stellen sind“, könnte demnach etwa durch zusätzliche Urlaubstage ausgeglichen werden.

Arbeitsplatzbezogener Vergleichsmaßstab

Maßstab des Vergleichs sind die Arbeitsbedingungen der vergleichbaren Stammbeschäftigten im Entleiherbetrieb. Für jeden von einem Leiharbeitnehmer zu besetzenden Arbeitsplatz muss daher gesondert überprüft werden, inwieweit sich dessen Arbeitsbedingungen von denen der auf diesem Arbeitsplatz beschäftigten Stammbeschäftigten unterscheiden und wie etwaige Unterschiede ausgeglichen werden können. Neben dem damit einhergehenden Mehraufwand – bei einem breit gefächerten Einsatzgebiet muss die Überprüfung wohl mehrfach vorgenommen werden – dürfte in manchen Fällen bereits die Bestimmung der Vergleichsgruppe unter den Stammbeschäftigten nicht ohne weiteres möglich sein, zum Beispiel wenn die vom Leiharbeitnehmer wahrzunehmende Tätigkeit von Stammbeschäftigten gar nicht ausgeübt wird oder sich die Arbeitsbedingungen der Stammbeschäftigten untereinander unterscheiden. Zudem lässt sich das Wertverhältnis der zu vergleichenden Arbeitsbedingungen wohl kaum sicher bestimmen, auch weil es der EuGH versäumte, hier nähere Kriterien an die Hand zu geben. Wie viel Tage Mehrurlaub wären beispielsweise notwendig, um ein um 10 % geringeres Entgelt auszugleichen?

Volle Gerichtliche Überprüfbarkeit?

Im Streitfall obliegt es den (Arbeits-)Gerichten, festzustellen, ob der Ausgleich im Tarifvertrag zutreffend vorgenommen wurde. Sie sind berufen, zu prüfen, ob die tariflichen Arbeitsbedingungen dem „Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern“ hinreichend Rechnung tragen. Die angesprochenen Schwierigkeiten stellen sich hier erneut. Insbesondere was das Wertverhältnis der zu vergleichenden Arbeitsbedingungen betrifft, können Gerichte jeweils eigene Vorstellungen davon haben, was welche Abweichung und welcher dafür gewährte Vorteil „wert“ ist.

Verschärft wird diese Problematik dadurch, dass der EuGH dem an sich auch auf europäischer Ebene anerkannten Beurteilungsspielraum der Tarifvertragsparteien denkbar wenig Raum lässt. Obgleich der EuGH den Beurteilungsspielraum der Tarifvertragsparteien ausdrücklich aufgreift und bestätigt, lesen sich die Urteilsgründe bisweilen so, als komme ihm bei der Frage, ob Abweichungen zulasten der Leiharbeitnehmer hinreichend ausgeglichen sind, keine Bedeutung mehr zu. Was genau unter einer „wirksamen gerichtlichen Kontrolle“, so wie sie der EuGH fordert, zu verstehen, lässt sich somit nicht restlos klären. Sicher ist aber: Einen so weitreichenden Beurteilungs- und Einschätzungsspielraum, wie ihn die Tarifvertragsparteien bei Gestaltung der tariflichen Arbeitsbedingungen nach der Rechtsprechung des BAG genießen, lässt der EuGH nicht zu. Machen die Tarifvertragsparteien von der Abweichungsmöglichkeit Gebrauch, besteht daher das erhebliche Risiko, dass ein Gericht seiner Prüfung ein anderes Wertverhältnis der zu vergleichenden Arbeitsbedingungen zugrunde legt, als es die Tarifvertragsparteien bei Abschluss des Tarifvertrags getan haben, und den Ausgleich somit für nicht ausreichend erachtet.

Abweichung beim Entgelt von unbefristet angestellte Leiharbeitnehmern weiterhin auch ohne Ausgleich möglich

Der „Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern“ ist für alle Leiharbeitnehmer zu beachten, ganz gleich ob sie befristet oder unbefristet beim Verleihunternehmen angestellt sind. Grundsätzlich sind daher für alle Leiharbeitnehmer Abweichungen von den Arbeitsbedingungen der Stammbeschäftigten nur gegen Ausgleich zulässig.

Eine Ausnahme dürfte aber bei Abweichungen im Entgelt unbefristet angestellter Leiharbeitnehmer gelten. Für diesen Fall belässt Art. 5 Abs. 2 der Leiharbeitsrichtlinie den Mitgliedsstaaten die Möglichkeit, Abweichungen vom Gleichstellungsgrundsatz unter der Voraussetzung zuzulassen, dass die Leiharbeitnehmer auch in der Zeit zwischen den Einsätzen (weiter-)bezahlt werden. Der Achtung des „Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern“ bedarf es hierbei nicht, da die Entgeltfortzahlung in einsatzfreien Zeiten im europäischen Vergleich – im Gegensatz zum deutschen Leiharbeitsmodell – keine Selbstverständlichkeit ist und somit nach Ansicht des europäischen Gesetzgebers einen hinreichenden Ausgleich darstellt. Das deutsche Recht beschränkt in § 8 Abs. 4 AÜG die Abweichungsbefugnis der Tarifvertragsparteien beim Entgelt auf die ersten neun Monate des Einsatzes, bei stufenweiser Heranführung an das Entgeltniveau der Stammbeschäftigten kann dieser Zeitraum auf bis zu 15 Monate verlängert werden. Soweit ein Tarifvertrag die persönlichen (nur unbefristet angestellte Leiharbeitnehmer) und zeitlichen Vorgaben (grundsätzlich nicht länger als neun Monate, ausnahmsweise bis zu 15 Monate) wahrt, steht er nicht im Widerspruch zum höherrangigen Recht. Es besteht daher – auch ohne gesonderten Ausgleich – kein Grund, ihm die Wirksamkeit abzusprechen.

Es ist zudem denkbar, dass die Entgeltfortzahlung auch bei befristet angestellten Leiharbeitnehmern Abweichungen, unter anderem etwa beim Entgelt, ausgleichen kann. Der EuGH hält es für nicht ausgeschlossen, die Entgeltfortzahlung in einsatzfreien Zeiten bei Beurteilung des Gesamtschutzes zu berücksichtigen. Aber auch hier besteht wieder Problematik einer zuverlässigen Bestimmung des Wertverhältnisses von Entgelt und Entgeltfortzahlung, wobei der Wert der Entgeltfortzahlung maßgeblich durch die Dauer der Befristung des Arbeitsverhältnisses zum Verleihunternehmen bestimmt werden dürfte. So wird die Entgeltfortzahlung bei kurzen Befristungen oder Befristungen auf die geplante Einsatzdauer keinen nennenswerten Ausgleichswert haben, da Leiharbeitnehmer von der Entgeltfortzahlung hier kaum profitieren dürften.

Fazit

Mit seinem Urteil stellt der EuGH die Zeitarbeitsbranche vor große Herausforderungen. Ihre Tarifverträge, die wohl allenfalls in Ausnahmefällen hinreichende Ausgleichsvorteile beinhalten, müssen für die Zukunft angepasst werden – mit all den damit einhergehenden praktischen Schwierigkeiten und Rechtsunsicherheiten. Es bleibt daher zu hoffen, dass das BAG bei der gerichtlichen Überprüfung der Ausgleichsregelungen dem durch die Tarifautonomie geschützten Beurteilungs- und Einschätzungsspielraum der Tarifvertragsparteien Rechnung tragen wird, obgleich dies angesichts des EuGH-Urteils nur in Grenzen möglich sein dürfte. In jedem Fall sollten die Tarifvertragsparteien ihre Erwägungen, nach denen sie den Ausgleich ausrichten, nachvollziehbar darlegen und dokumentieren, um später bei einer gerichtlichen Überprüfung das Gericht von der Angemessenheit des Ausgleichs überzeugen zu können.

Für die Vergangenheit müssen sich Verleihunternehmen auf Differenzvergütungsansprüche jedenfalls befristet angestellter Leiharbeitnehmer einstellen. Dieses Risiko ist bei einer (wirksamen) Ausschlussklausel in Tarif- und/oder Arbeitsvertrag in zeitlicher Hinsicht jedoch in der Regel auf wenige Monate beschränkt. Es besteht aber das Risiko, Sozialversicherungsbeiträge auf die Differenzvergütung für die vergangenen vier Jahre nachentrichten zu müssen, ohne die Leiharbeitnehmer hälftig hieran beteiligen zu können. Dieses Risiko trifft das Entleihunternehmen gleichermaßen, das gegenüber der Einzugsstelle für die Sozialversicherungsbeiträge neben dem Verleihunternehmen ebenfalls haftet.

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