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BAG zur verpflichtenden Arbeitszeiterfassung - Was müssen Unternehmen ab sofort beachten?

In einer der wohl aufsehenerregendsten Entscheidungen des Jahres führt das Bundesarbeitsgericht (BAG) – praktisch über Nacht – die Verpflichtung von Arbeitgeber:innen zur Arbeitszeiterfassung ein. Dies hat erhebliche Auswirkungen auf alle Unternehmen in Deutschland. Während die Ampelkoalition nur angekündigt hat, den Anpassungsbedarf im Arbeitszeitrecht zu prüfen, geht das Bundesarbeitsgericht nun voran: Arbeitgeber:innen werden verpflichtet, die Arbeitszeiten ihrer Beschäftigten systematisch zu erfassen. Dies ergibt sich aus einer Auslegung des Arbeitsschutzgesetzes im Sinne eines EuGH-Urteils aus dem Jahr 2019, das die Arbeitgeber:innen verpflichtet, ein objektives, zuverlässiges und zugängliches System zur Messung der täglichen Arbeitszeit jedes Arbeitnehmers und jeder Arbeitnehmerin einzurichten (BAG v. 13. September 2022 – 1 ABR 22/21). Nach der Reform des Nachweisgesetzes stehen Unternehmen nun vor der nächsten Herausforderung.

1. Worum ging es?

Auslöser für diese weitreichende Entscheidung war ein Streit zwischen den Betriebsparteien über die Grundlagen der zwingenden Mitbestimmung.

Im Bereich der erzwingbaren „echten“ Mitbestimmung hat der Betriebsrat grundsätzlich nicht nur ein Zustimmungsrecht, sondern auch ein Initiativrecht. Das heißt: Nicht nur der Arbeitgeber bzw. die Arbeitgeberin, sondern auch er selbst kann die Durchführung von mitbestimmungspflichtigen Maßnahmen oder die Regelung solcher Angelegenheiten – etwa in Form einer Betriebsvereinbarung – vorschlagen und im Weigerungsfall auch die Einigungsstelle zur verbindlichen Entscheidung anrufen. Dies gilt in sozialen Angelegenheiten insbesondere für Arbeitszeitregelungen, Urlaubsgewährung oder Maßnahmen des Arbeitsschutzes. Eine Einschränkung des Initiativrechts kann sich aus dem Inhalt des jeweiligen Mitbestimmungsrechts und dessen Sinn und Zweck ergeben. So vertrat das BAG etwa in einer Entscheidung aus dem Jahr 1989 die Ansicht, dass kein Initiativrecht zur Einführung von technischen Kontrolleinrichtungen besteht, weil das Mitbestimmungsrecht nur eine abwehrende Funktion hat. Eine weitere Grenze ergibt sich unmittelbar aus dem Einleitungssatz von § 87 Abs. 1 BetrVG: Danach kann der Betriebsrat in sozialen Angelegenheiten nicht mitbestimmen, soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung besteht. 

In dem zugrundeliegenden Fall hatte der Betriebsrat unter Berufung auf eben solches Initiativrecht die Einführung einer Arbeitszeiterfassung gefordert und deshalb die Einigungsstelle angerufen. Während das Arbeitsgericht den entsprechenden Feststellungsantrag des Betriebsrats ablehnte, gab das Landesarbeitsgericht (LAG) diesem statt. Aufgrund der damit verbundenen Abweichung des LAG vom Beschluss des BAG (v. 28. November 1989 – 1 ABR 97/88), hatte es die Rechtsbeschwerde zum BAG zugelassen.

2. Die Entscheidung des BAG

In seiner aktuellen Entscheidung hat das BAG ein solches Initiativrecht des Betriebsrats nicht mehr mit Blick auf Sinn und Zweck des Mitbestimmungsrechts abgelehnt, sondern ist bereits einen gedanklichen Schritt vorher aus der Prüfung ausgestiegen: 

Nach Auffassung des BAG sind Arbeitgeber:innen bereits gesetzlich zur systematischen Erfassung der Arbeitszeiten ihrer Beschäftigten verpflichtet, sodass für ein Initiativrecht des Betriebsrats kein Raum mehr besteht. 

Diese Pflicht – so heißt es in der bislang lediglich als Pressemitteilung veröffentlichten Entscheidung – ergibt sich aus einer unionsrechtskonformen Auslegung von § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG. Danach ist der Arbeitgeber bzw. die Arbeitgeberin verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes unter Berücksichtigung der Umstände zu treffen, die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bei der Arbeit beeinflussen. Er / Sie hat die Maßnahmen auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen und erforderlichenfalls sich ändernden Gegebenheiten anzupassen. Zur Planung und Durchführung dieser Maßnahmen hat der Arbeitgeber bzw. die Arbeitgeberin unter Berücksichtigung der Art der Tätigkeiten und der Zahl der Beschäftigten unter anderem für eine geeignete Organisation zu sorgen und die erforderlichen Mittel bereitzustellen.

Diese gesetzliche Pflicht schließe ein – ggfs. mithilfe der Einigungsstelle durchsetzbares – Initiativrecht des Betriebsrats zur Einführung eines Systems der (elektronischen) Arbeitszeiterfassung im Betrieb aus.

3. Hintergrund: Das sog. Stechuhr-Urteil des EuGHs

Das BAG stützt sich damit auf eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), die bereits im Jahr 2019 für viel Aufsehen und Diskussion gesorgt hat, bislang vom deutschen Gesetzgeber aber nicht umgesetzt wurde.  

In diesem sog. Stechuhr-Urteil (EuGH v. 14. Mai 2019 – C-55/18) entschied der EuGH, dass die Mitgliedstaaten die Arbeitgeber:innen verpflichten müssen, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzurichten, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer und jeder Arbeitnehmerin geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann. Nur so könnten die Rechte aus der EU-Arbeitszeitrichtlinie (RL 2003/88) umgesetzt, also insbesondere die Einhaltung der wöchentlichen Höchstarbeitszeit sowie der täglichen und wöchentlichen Ruhezeiten sichergestellt werden.

4. Was galt bislang?

Die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung ist dem deutschen Recht per se nicht fremd. Bereits jetzt sind Arbeitgeber:innen etwa verpflichtet, Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit aufzuzeichnen, soweit sie Arbeitnehmer:innen geringfügig beschäftigen oder wenn sie in einem der in § 2 a des Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetzes genannten Wirtschaftsbereiche oder Wirtschaftszweige tätig sind (§ 17 MiLoG).

Eine entsprechende allgemeine Regelung gibt es bislang allerdings nicht. Das deutsche Recht sah nur eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung für Überstunden, also für jede über die Regelarbeitszeit von acht Stunden hinausgehende Arbeitszeit an Werktagen sowie für Arbeitszeit an Sonn- und Feiertagen, vor (§ 16 Abs. 2 ArbZG), nicht aber für die gesamte Arbeitszeit. 

5. Welche Auswirkungen hat die Entscheidung für Unternehmen?

Auch wenn die Entscheidungsgründe noch ausstehen, dürften Arbeitgeber:innen nach der Entscheidung des BAG zukünftig kaum umhinkommen, ein geeignetes (elektronisches) System zur Arbeitszeiterfassung einzuführen.

Wie muss dieses System aussehen?

Nach den Vorgaben des EuGHs müssen Arbeitgeber:innen ein „objektives, zuverlässiges und zugängliches System“ zur Messung der täglichen Arbeitszeit einführen. Was genau unter den Begriffen „objektiv“ und „verlässlich“ zu verstehen ist, lässt sich am besten mit Blick auf den Sinn und Zweck der vom EuGH konstituierten Arbeitszeiterfassungspflicht beantworten: Das System muss ermöglichen, dass sicher festgestellt werden kann, wie lange Beschäftigte (bereits) gearbeitet haben und dass sich ohne Weiteres beurteilen lässt, ob die einschlägigen Arbeitszeitgrenzen (noch) gewahrt sind. Insofern wird es wohl – ähnlich wie bei den aktuell für bestimmte Bereiche bereits bestehenden Arbeitszeiterfassungspflichten – erforderlich sein, jedenfalls Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit zu erfassen. 

Zudem ist auf eine datenschutzkonforme Gestaltung und Implementierung zu achten. Insbesondere ist das System so datensparsam wie möglich aufzusetzen, Zugriffsrechte sind auf need-to-know Basis zu beschränken und jede Weiterverarbeitung der aufgezeichneten Daten zu weiteren Zwecken sollte streng geprüft werden.

Für wen gilt diese Pflicht?

Die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung gilt für alle Arbeitnehmer:innen, gleich ob es sich um Arbeiter, Angestellte oder Auszubildende handelt – unabhängig von der Größe des Unternehmens und davon, ob es einen Betriebsrat gibt. 

Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung zukünftig auch für leitende Angestellte gilt, die vom Anwendungsbereich des ArbSchG ebenfalls erfasst sind. Da es dem EuGH im Kern um die Einhaltung der Vorgaben der ArbZ-RL geht, die eine Ausnahme für „leitende Angestellte oder sonstige Personen mit selbstständiger Entscheidungsbefugnis“ erlaubt, ist zumindest vorstellbar, dass leitende Angestellte auch zukünftig ausgenommen sind. Ähnliche Fragen stellen sich auch für Fremdgeschäftsführer, die unionsrechtlich als Arbeitnehmer anzusehen sind, und arbeitnehmerähnliche Personen (wirtschaftlich Abhängige). Klarheit dürfte es insoweit wohl erst geben, wenn die Entscheidungsgründe veröffentlicht werden.

In welcher Form muss die Arbeitszeit erfasst werden?

Zur Frage, wie die Arbeitszeiterfassung erfolgen muss, finden sich in der Pressemitteilung des BAG keine Hinweise. Auch der EuGH hatte in seiner Entscheidung 2019 keine näheren Vorgaben zur Ausgestaltung des Arbeitszeiterfassungssystems formuliert; vielmehr betonte er, dass es den Mitgliedstaaten im Rahmen des ihnen insoweit eröffneten Spielraums obliegt, die konkreten Modalitäten zur Umsetzung eines solchen Systems, insbesondere dessen Form, festzulegen. Im Rahmen seines Schlussantrags hielt der Generalanwalt beim EuGH neben einer Erfassung in elektronischer Form auch eine Aufzeichnung in Papierform (z.B. Stundenzettel) oder über „jedes andere geeignete Instrument“ (z.B. Stechuhr) für möglich.

Insoweit lohnt sich auch ein Blick über die Ländergrenzen hinaus: So werden z.B. die Arbeitnehmer:innen in Luxemburg aufgefordert, ihre Arbeitszeiten konkret anzugeben oder – alternativ – nur pauschal zu bestätigen, dass sie acht Stunden gearbeitet haben. Überstunden müssen begründet und vom Vorgesetzten genehmigt werden. Gegebenenfalls ließe sich eine solche Abfrage via Outlook realisieren. Ob solche oder ähnliche Modelle auch in Deutschland zulässig sind, lässt sich allerdings erst beurteilen, wenn die schriftlichen Entscheidungsgründe vorliegen, was wohl frühestens in ein paar Wochen der Fall sein dürfte.

Kann es noch Vertrauensarbeitszeitmodelle geben?

Angesichts dessen wäre es auch verfrüht, Vertrauensarbeitszeitmodelle zum jetzigen Zeitpunkt bereits für obsolet zu erklären. Zumindest nach bislang überwiegend vertretener Auffassung ist die Delegation der Erfassung der Arbeitszeit an die Arbeitnehmer:innen weiterhin möglich, den Arbeitgeber bzw. die Arbeitgeberin treffen jedoch Organisations- und Kontrollpflichten (z.B. stichprobenartige Kontrollen).

Hoffnung gibt schließlich auch der Koalitionsvertrag, in dem sich die Ampel-Koalition klar zur Beibehaltung der Vertrauensarbeitszeit bekennt: „Im Dialog mit den Sozialpartnern prüfen wir, welchen Anpassungsbedarf wir angesichts der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Arbeitszeitrecht sehen. Dabei müssen flexible Arbeitszeitmodelle (z.B. Vertrauensarbeitszeit) weiterhin möglich sein.“ Insoweit ist der Gesetzgeber nun mehr denn je gefragt.

Ist der Betriebsrat zu beteiligen?

Auch wenn das BAG entschieden hat, dass dem Betriebsrat kein förmliches Initiativrecht zusteht, mit dem er die Einführung einer Arbeitszeiterfassung verlangen kann, sind im Übrigen die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats zu berücksichtigen. Insbesondere bei Einrichtung einer elektronischen Arbeitszeiterfassung kann der Betriebsrat mitbestimmen, da es sich insoweit um eine technische Einrichtung handelt, die zur Überwachung der Arbeitnehmer:innen geeignet ist (§ 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG).

Ab wann gilt diese Pflicht?

Da das BAG die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung auf eine europarechtskonforme Auslegung des bereits geltenden Arbeitsschutzgesetzes stützt, gilt die Pflicht, ein zur Arbeitszeiterfassung geeignetes (elektronisches) System einführen, ab sofort.

Was droht bei einem Verstoß gegen diese Pflichten?

Reagiert der Arbeitgeber bzw. die Arbeitgeberin nicht auf die Entscheidung, können sich die Arbeitnehmer:innen an einen eventuell vorhandenen Betriebsrat wenden. Dieser kann auf Grundlage seiner allgemeinen Überwachungsaufgabe (§ 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG) einen Verstoß des Arbeitgebers bzw. der Arbeitgeberin gegen die Verpflichtung zur Einführung eines entsprechenden Arbeitszeiterfassungssystems geltend machen. Alternativ können sich die Arbeitnehmer:innen auch direkt an den Arbeitgeber bzw. Arbeitgeberin wenden. Sofern dieser/diese den Beschwerden nicht abhilft, können sich sowohl die Arbeitnehmer:innen als auch der Betriebsrat an die zuständige Arbeitsschutzbehörde wenden.

Unmittelbare – behördliche – Konsequenzen sind bei einer Nichtumsetzung der Arbeitszeiterfassungspflicht allerdings (noch) nicht zu erwarten. Sofern die zuständige Arbeitsschutzbehörde einen Verstoß feststellt, kann diese im Einzelfall anordnen, welche Maßnahmen der Arbeitgeber bzw. die Arbeitgeberin zu treffen hat. Nur sofern gegen diese Anordnung der Behörde verstoßen wird, kann ein Bußgeld von bis zu 30.000€, bei beharrlichen, wiederholten Verstößen sogar eine Freiheitsstrafe oder Geldstrafe, verhängt werden. Angesichts dessen, dass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) selbst angibt, zunächst auf die Entscheidungsgründe warten und diese eingehend prüfen zu wollen, dürfte nicht damit zu rechnen sein, dass die Behörden zu solchen Maßnahmen greifen werden, bevor die Entscheidungsgründe vorliegen. 

6. Was ist nun zu tun?

Sicherlich kommt mit der Entscheidung des BAG eine große Aufgabe auf die Arbeitgeber:innen zu. Wie so oft ist zum jetzigen Zeitpunkt aber Gelassenheit statt wildem Aktionismus gefragt. Von einer voreiligen Umsetzung durch die Arbeitgeber:innen ist jedenfalls abzuraten – insbesondere vor Veröffentlichung der Entscheidungsgründe. Angesichts der großen Entscheidungsspielräume der Mitgliedstaaten bei der nationalen Umsetzung der Richtlinie ist derzeit noch nicht absehbar, für welche Beschäftigten und in welchen Formen letztlich eine Arbeitszeiterfassung verlangt werden wird.

Auch wenn daher überall vom großen „Paukenschlag“ die Rede ist, sollte diese Entscheidung zunächst als Weckruf verstanden werden. Arbeitgeber:innen sollten jetzt proaktiv auf die Arbeitnehmer:innen zugehen und klarstellen, dass sich zunächst nichts ändern wird, die Themen Arbeitnehmerschutz und Mental Health aber selbstverständlich sehr ernst genommen werden und daher (ggf. gemeinsam mit dem Betriebsrat) nun geprüft wird, wie die Entscheidung zukünftig umgesetzt werden kann, ohne dass dies für die Arbeitnehmer:innen zu Einschränkungen in der Flexibilität führen wird. Weiter ist Arbeitgebern und Arbeitgeberinnen zu raten, das Urteil zum Anlass zu nehmen, eine Bestandsaufnahme im eigenen Unternehmen durchzuführen und (ggf. mit dem Betriebsrat) Umsetzungsoptionen zu erörtern: Welche Systeme und (betrieblichen) Vereinbarungen existieren bereits, die für eine Zeiterfassung genutzt werden könnten? Schließlich sollten auch bereits jetzt grundsätzliche Fragen zur Arbeitszeit(erfassung) geklärt werden: Was gilt als Arbeitszeit – welche Zeiten müssen festgehalten werden? Wie ist mit regelmäßigen Mini-breaks im Home-Office statt der gesetzlich vorgesehenen Pausen umzugehen? Wie geht man damit um, wenn die tatsächlich protokollierte Arbeitszeit unterhalb der vertraglich geschuldeten liegt, oder, wenn sie oberhalb liegt – ist das dann automatisch als Überstunde anzusehen und vergütungspflichtig?

All diese und weitere Fragen sowie Lösungsmöglichkeiten für Ihr Unternehmen erörtern wir gerne mit Ihnen.

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